Teufel in High Heels
Abend zuvor bis eins im Büro gewesen war. Wenn Randall sich auf Dienstreise befand - diese Woche in Tokio -, nutzte ich gern die Gelegenheit, ein paar Extraschichten einzulegen.
So hatte ich die Augen erst um sieben aufgeschlagen, volle eineinhalb Stunden nach meiner normalen Weckzeit. Zum Glück war ich Weltmeisterin in der Disziplin »Morgens fertig machen«. Wenn nötig, zog ich das gesamte Programm in weniger als fünf Minuten durch. Unter die Dusche hüpfen, einmal mit dem Kamm durchs Haar, eincremen, Deo aufsprühen, Wimpern tuschen, ein Spritzer Parfüm und rein in die übliche Arbeitsmontur, schwarz natürlich. Wegen der sengenden Augusthitze hieß das heute: schwarzer Rock und kurzärmliger, leichter Pullover. Mich mit irgendwelchen Farbzusammenstellungen herumzuschlagen, hatte ich schon vor Jahren aufgegeben - eines der ersten Anzeichen dafür,
dass New York nachhaltig auf mich abgefärbt hatte. Stattdessen hielt ich mir einen Kleiderschrank, aus dem auch ein Blinder in Sekundenschnelle ein bürotaugliches Outfit herausfischen konnte.
Ich schlürfte gierig einen Schluck von meinem Kaffee, bevor mir am Ende auch noch der Rest über die Hand rann, und lief die Treppe zur U-Bahn hinunter.
Denk an etwas Schönes , betete ich mir vor, nachdem ich mich in das vollgestopfte Abteil gezwängt hatte - doch die beißenden Ausdünstungen des Mannes neben mir machten alle Denkübungen zunichte. Schließlich kamen wir an der 51. Straße mit einem Ruck zum Halt, und die Meute schwärmte hinaus in den stickigen U-Bahn-Mief. Ich kämpfte mich die Treppe hoch, wie üblich schon jetzt am Ende - eine Kuh unter vielen auf dem langsamen, klebrigen Trott zur Arbeit. Über uns auf dem Bürgersteig ging kaum etwas vorwärts.
Was hielt die Leute auf? Nach zwei weiteren Stufen sah ich es: Ein erwachsener Mann mit einem Babyhäubchen auf dem Kopf und Reklametafeln vor Brust und Rücken verteilte Flugblätter an alle Passanten, die sich bewegen ließen, ihm eins abzunehmen. Ich spürte einen fiesen Anfall von Menschenunfreundlichkeit und ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten.
»Ganz recht, Leute, Buy Buy Baby veranstaltet wieder den alljährlichen Räumungsverkauf«, hallte seine Stimme über die Treppe hinab. »Alles muss raus! Mobiles, Babykleidung und Windeln im Megapack. Bitte sehr, der Herr. Sechzig Prozent auf alles, das ist schlicht unschlagbar, Leute.« Mittlerweile war ich schon fast ganz oben. Nur noch ein paar Stufen.
»Wer weiß schon, wann der Storch sich plötzlich einstellt!«, blökte die Stimme weiter. Eine ältere Frau zu meiner
Linken empörte sich lauthals über diese Unterstellung. Der Mann rechts von mir - konservativer Anwaltstyp mit marineblauem Anzug - lieferte sich eine ausgewachsene Redeschlacht mit sich selbst. Wohlgemerkt, ohne dass ihm irgendwelche Kabel oder Freisprechvorrichtungen aus den Ohren wuchsen. In der letzten Zeit war mir aufgefallen, dass immer mehr meiner New Yorker Mitbürger - nach außen hin geistig völlig gesunde Männer und Frauen - auf der Straße gänzlich unbekümmert vor sich hin redeten. Offenbar war die Hemmschwelle, so oder so total durchgeknallt zu wirken, in den fünf Jahren, die ich nun schon hier wohnte, deutlich gesunken.
Ich trat ins Freie - na ja, die Freiheit hielt sich in Grenzen, bei dem Ausstoß von Abgasen und dem schwer verdaulichen Straßenverkäufer, der schon vor Tau und Tag irgendwas Würziges, Fleischiges auf dem Grill hatte (ich kam nie nah genug hin, um es genauer zu identifizieren).
» Claire … Claire?« Nanu? Wer rief da nach mir? Ich sah mich um, konnte in der miesepetrigen Menge aber kein bekanntes Gesicht entdecken.
O Gott, es war das Riesenbaby!
Er walzte durch die Menge auf mich zu. Einen Moment lang befürchtete ich, irgendwie in so was wie die neueste Folge von Ally McBeal geraten zu sein, aber dann rückte das Babymonster näher und kam mir doch entfernt bekannt vor. Nur, wer war das? Und wie konnte ein Mensch bloß auf den Gedanken verfallen, in einer dermaßen dämlichen Verkleidung eine alte Bekannte auf der Straße anzusprechen? Ich wurde stellvertretend für ihn rot.
»Claire Truman?«, fragte er. »Ich bin Luke, der Neffe von Jackson Mayville. Wir haben uns -«
»Luke, ja natürlich!« Mit einem Mal wusste ich es wieder. Luke, der darbende Künstler, der alle Zuwendungen von elterlicher Seite verweigert hatte und sich als Musiker durchschlug … oder als Bühnenautor? Egal, Jackson vergötterte ihn. Ich hatte schon oft von
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