Teufel - Thriller
auf, ging fast lautlos zur Tür und schob den dicken Vorhang zur Seite. »Ich warte draußen auf Sie.«
Valerie schlüpfte in ihre Cargo-Hosen und streifte einen Pullover über ihr T-Shirt. Dann nahm sie die dicke Daunenjacke und folgte dem Abt auf den Gang.
»Es ist die Stunde der Schnee-Eule«, lächelte der Abt zur Begrüßung und verneigte sich vor Valerie. »Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, dass ich Sie geweckt habe. Um diese Uhrzeit ist man sensibel für viele Wahrheiten und Traditionen. Die Filter, die sich sonst vor unsere Wahrnehmung schieben, sind noch heruntergefahren. Man ist verwundbar, aber auch klarsichtig.«
Er machte Valerie ein Zeichen, ihm zu folgen, und ging langsam die Treppen hinab, während er erzählte. Kerzen brannten in kleinen weißen Nischen und flackerten im Luftzug.
»Vor zwei Jahren, als die Fremden in unser Kloster kamen und nach dem großen Geheimnis suchten, da zerstörten sie den Hauptteil des Gebäudes. Aber sie zahlten einen hohen Blutzoll und mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen.«
Er blieb stehen und sah Goldmann mit großen Augen an. »Nicht wir hatten die chinesische Spezialeinheit besiegt, wir sind nur einfache Mönche. Aber das Geheimnis schützt sich selbst. Ich bin mir sicher, Sie haben das auch erfahren.« Der Abt drehte sich um und ging langsam weiter die Treppen hinab. »Der Drache ist ein Symbol der Stärke, der Langlebigkeit und des Wohlstands. Viele chinesische Kaiser wurden für Nachkommen oder für Söhne der Drachen gehalten, ja, es gab zeitweise den Glauben, dass der Kaiser die Gestalt eines Drachens annehmen konnte. Das ist eine Legende, eine Überlieferung eines Wunschdenkens. Kein Mensch, ob Kaiser oder König, kann die Form eines Drachen annehmen, aber der Volksmund liebt solche Vorstellungen.«
Der Abt lächelte und zwinkerte Goldmann zu. Dann wurde er wieder ernst. »Doch in jedem von uns schlummert etwas, eine Kraft, auf die wir Zugriff haben und die wir nutzen können. Die einen nennen es Willen und die anderen Glauben. Beide können Berge versetzen, so weiß man.«
Er stieg die letzten Stufen der Treppe herab und ging zum großen Tor hinüber, das er aufzog. Dann winkte er Valerie, ihm zu folgen.
Der Schnee knirschte unter ihren Schritten. Die Nacht war sternenklar, ein großer, weißer Mond stand am Himmel, und die Berge schienen zum Greifen nahe. Der Blick über das Kar verlor sich im Dunkel der Täler und Felsabgründe der Berghänge, die nach Lhasa hinunterführten. Es war völlig still und eiskalt.
»Das Geheimnis der legendären Drachenkönige, der Lu-Gyal, deren Wissen selbst in Tibet schon lange in Vergessenheit geraten ist, war zu groß und zu ungeheuerlich für die Menschen.« Der Abt schaute andächtig auf das Panorama aus Schnee und Felsen, aus Mondlicht und dunkelblauen Schatten. »Es war so gewaltig wie die Natur, so unaufhaltsam wie der Lauf der Gestirne. Also mussten die Menschen ihm eine Dimension geben, die sie begreifen konnten. So entstanden die Drachen und danach die Drachenkönige. Eine Vereinigung von Stärke und Macht, von Mut und Weisheit und der Ausdruck des Wunsches, dass Könige lang und glücklich leben sollten.«
Valerie wunderte sich, dass der Abt in seinem dünnen roten Gewand nicht erfror. Aber der alte Mann schien die Kälte nicht zu spüren.
»Der erste chinesische Kaiser spürte dem Geheimnis sein Leben lang nach. Er bezahlte Expeditionen, schickte Kuriere in alle Ecken seines Reiches, unternahm selbst weite und beschwerliche Reisen. Seine Ausdauer ehrte ihn, das Schicksal beschenkte ihn. Er konnte einen Zipfel des Schleiers lüften.« Der alte Mann lächelte. »Das war vor zweitausend Jahren. Da waren Mönche in Tibet bereits seit Langem die Hüter des Geheimnisses der Drachenkönige. Und wir werden es in zweitausend Jahren noch immer hüten, solange dieser Mond da oben steht.«
Er nickte Valerie zu und wandte sich zum Gehen. »Ich sehe, Sie haben gelernt zuzuhören. Eine seltene Tugend heutzutage. Aber Sie haben auch gelernt zu sehen. War es nicht so, vor zwei Jahren? Standen Sie da nicht vor einer Königskrone, die Stärke und Mut, Macht und Reichtum symbolisierte?«
Valerie blickte ihn verwirrt an. »Woher …?«
Der Abt hob die Hand. »Wurden Sie in diesem Moment nicht zu einer Hüterin des Geheimnisses? Haben Sie es nicht geschützt?«
»Doch«, gab Valerie zu, »wie meine Freunde auch.«
»Sehen Sie, das Wissen darum teilt die Menschen in zwei Lager, das der Bewahrer und das der
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