Teufel - Thriller
in der Sonne. Mayröcker fuhr mit seinen Erläuterungen fort. »Heute können wieder alle Besucher unsere Steinerne Bibel problemlos besichtigen, aber das war nicht immer so, müssen Sie wissen«, stellte er fest und deutete nicht ohne Stolz auf die gepflegte, parkähnliche Grünfläche im Osten der Kirche.
Georg horchte auf. »Warum nicht? Ich dachte, alle sollten sie von der Straße her sehen.«
»Im Mittelalter ja, aber in der Barockzeit wurde die ganze Kirche mit Ausnahme der Apsis ummantelt. Die ebenfalls reich verzierte Westfassade wurde geschliffen, der Turm errichtet, und an der Südseite, dort, wo Sie das zugemauerte Portal sehen können, wurde angebaut.« Mayröcker wies auf den jeweiligen Bauabschnitt. »Damit versperrte die Sakristei den Zugang zur Apsis. Nur der Pfarrer hatte Zugang zur Steinernen Bibel. Manchmal wurden Ausnahmen gemacht, etwa bei dem berühmten deutschen Künstler Schinkel.«
»Man sollte meinen, dass man die Darstellungen mit diesen Zubauten absichtlich vor neugierigen Blicken verbergen wollte«, wunderte sich Georg. »So als wollte man nur Eingeweihten oder wenigen Auserwählten den Anblick der Steinernen Bibel zutrauen. Erzählt sie etwa eine so brisante Geschichte? Haben Sie eine Ahnung, warum man sich im 18. Jahrhundert entschloss, die Apsis lieber vor den Blicken der Normalsterblichen zu verstecken?«
Täuschte er sich, oder hatte Mayröcker die Frage absichtlich überhört? Der Pfarrer plauderte betont zwanglos mit Barbara.
Seltsam, dachte Sina, und blätterte im Collegeblock, bis er die entsprechende Stelle gefunden hatte. »Der steinerne Vorhang wurde herabgelassen vor einer Schrift, die alle erschreckte«, hatte Jauerling geschrieben. Ich hätte es nicht besser sagen können, dachte Georg. Die Reliefs wurden hinter dieser Sakristei versteckt, die auch das Südportal für immer versperren sollte. Aber die Steinerne Bibel zu zerstören, das hatte man sich doch nicht getraut. Der Wissenschaftler erinnerte sich an die Passage in Jauerlings Aufzeichnungen. Es gäbe hier immer noch Menschen, die den Code lesen konnten und ihn gegebenenfalls auch zu schützen wüssten. Jauerling hatte Reliefs erwähnt, »die eine Geschichte erzählen, die Rom lieber nie mehr an diesem Ort gehört hätte«. Lag das Geheimnis in den Figuren von Schöngrabern?
Sina strich mit den Fingerspitzen fast liebevoll über den rauen Stein. »Wann wurde die Kirche wieder von den barocken Verschnörkelungen befreit?«
Der Priester hob den Kopf, blickte hinauf zu den Fratzen der Figuren und verschränkte die Hände vor seinem Bauch. »An der Außenseite in den 20er-Jahren, innen etwas später.« Sina folgte seinem Blick. Was er bei genauerem Hinsehen erkennen konnte, war beeindruckend. Masken und groteske Figuren aus Stein, bärtige Gesichter, die streng und würdevoll blickten, darunter kleine gebückte Männer, die Barthaare der Masken zu langen Zöpfen flochten, und wildes Laubwerk, das wucherte und dann ganz unvermittelt menschliche Züge annahm. Neben schönen Frauen, die Männer lockten, rangen Helden mit wilden Tieren.
»Auf mich wirken diese Formen irisch«, überlegte Georg laut. »Die Ornamente auf den Säulen, die grünen Männer, das Bandflechtwerk… Wie Stein gewordene irische Buchmalerei.« Er ging ein paar Schritte auf und ab, um die Muster und Figuren aus allen Blickwinkeln zu sehen.
Der Priester zuckte mit den Schultern. »In den vergangenen Jahrhunderten waren immer wieder Kunsthistoriker hier. Meinungen gibt es fast so viele wie Besucher. Manche von ihnen haben byzantinische Einflüsse erkannt, andere italienische und französische herausgelesen. Ich selbst kenne mich damit nicht aus.« Mayröcker holte ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich geräuschvoll. »Ich weiß nur, dass diese Reliefs mit ihren Darstellungen im Alten Testament beginnen, um dann mit der Erlösung durch Jesus Christus zu enden. Sie können hier den Kampf zwischen Simson und dem Löwen erkennen, Adam und Eva im Paradies, den Brudermord von Kain und Abel beobachten, Gott über dem Teufel thronen sehen. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt.«
»Hier ist auch eine Fabel von Aesop!« Barbara wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger nach oben. »Der Wolf und der Kranich.«
»Genau«, bestätigte der Geistliche. »Der listige Wolf verführt den Kranich, den Kopf in seinen Hals zu stecken. Dann beißt er ihn ab. Ein Sinnbild für die Verführungsmacht des Satans.«
»Und diese hübschen Frauen, die den Männern
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