Teufelsbande: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
den Fall, dass sie am Borderline-Syndrom leidet. Der Hass auf sich selbst treibt diese Menschen an, nicht der Hass auf andere.«
»Klingt einleuchtend, wobei ich es trotzdem nicht gänzlich außer Acht lassen darf«, sagte die Kommissarin.
»Schau mal auf ihre Unterarme«, riet Alina. »Vielleicht entdeckst du alte Narben vom Ritzen. Sie können überall sein, von Handgelenk bis Armbeuge. Nur so eine Idee. Ich nenne das gerne Borderline-Stigmata.«
»Wie bitte?«
»Ach, weil viele junge Mädchen sich diese Selbstverletzungen zufügen und von vorschnellen Kollegen, leider in der Regel von Männern, in die Borderline-Schublade gesteckt werden«, seufzte Alina.
»Aber irgendetwas stimmt ja trotzdem nicht mit ihnen«, warf Julia ein, »also besser, als es zu ignorieren, oder?«
»Mag sein. Aber Borderline ist eben keine klinische Erkrankung, eine manische Depression hingegen schon. Früh genug erkannt, kann man Jugendliche auf Medikamente einstellen und die Symptome abfangen. Es sind natürlich Hammermedikamente, aber wenn man die Lebensqualität dagegen aufwiegt, die durch eine Ausgeglichenheit der extremen Phasen erreicht werden kann … Nun ja, das führt jetzt aber wirklich zu weit.«
»Ich finde es hochinteressant, zumal ich noch immer nicht ganz verstehen kann, warum diese Frau mir gestern noch zu verstehen gab, sie habe Depressionen, aber dann im gleichen Atemzug ein offensichtlich falsches Alibi strickt.«
»Das ist ja diese teuflische Ambivalenz«, erwiderte Alina, »die sich offenbar jeder Logik entzieht. Glaub mir, der Umgang mit Manisch-Depressiven, aber noch mehr mit Borderlinern, ist zermürbend. Sie hat dich ein Stück weit in ihr Leben blicken lassen, weil es ihr in den Kram passte. Morgen früh schlägt sie die Hand, die du ihr entgegenstreckst, möglicherweise schallend zurück. Von daher rate ich dir, bleib bei der Strategie, die wir besprochen haben. Wenn sie tatsächlich am Boden ist, wird sie den Strohhalm greifen und nicht mehr loslassen. Das ist eure Chance. Aber gleichzeitig wird sie dich zutiefst hassen, weil du ihre symbiotische Beziehung zerstörst.«
»Danke für die Vorwarnung«, sagte die Kommissarin, stieß den Atem aus, den sie gespannt angehalten hatte, und fügte hinzu: »Aber sie wird jetzt nicht ausrasten oder Amok laufen, oder?«
»Nein, wohl kaum. Ein hysterischer Anfall ist das Schlimmste, was passieren dürfte, danach bleibt nicht viel mehr als ein Häufchen Elend übrig«, beschwichtigte Alina sie. »Achte aber bloß darauf, dass sie sich hinterher nichts antun kann. Selbstgefährdung ist sowohl bei BS als auch bei MD weitaus wahrscheinlicher als die Gefährdung Dritter.«
»Und es gibt tatsächlich Menschen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, solche Patienten tagtäglich zu behandeln?«, murmelte Julia und kratzte sich zweifelnd am Kopf.
»Mehr, als du denkst«, lachte Alina, »außerdem sind ja nicht alle so extrem. Abgesehen davon solltest du bei deinem Job mal ganz leise sein. Wer möchte sich schon tagein, tagaus mit Mördern herumschlagen?«
»Touché«, gestand Julia ein. »Danke für deinen Rat.«
»Immer gerne, ruf mich also wieder an, wenn du für den Fall noch weitere Infos brauchst. Und verweise die Frau bitte unbedingt an einen professionellen Kollegen oder, noch besser, an eine Kollegin. Nicht dass ich etwas gegen Männer hätte«, sie gluckste leise und kicherte, »aber, na ja, du weißt schon.«
Auch Julia musste unwillkürlich schmunzeln, denn sie verstand nur allzu gut, worauf ihre Freundin anspielte. Alina Cornelius hatte sich vor Jahren für das weibliche Geschlecht entschieden, wenn es um die Wahl ihrer Sexualpartner ging. Sie trug diese Vorliebe nicht zur Schau, im Gegenteil. Alina wusste durchaus, wie sie sich Männern gegenüber zu verhalten hatte, denn nur wenige ihrer Patienten hätte sie wohl als Therapeutin akzeptiert, wenn sie nicht insgeheim ihre erotischen Phantasien bilden konnten. Ein völlig normaler Vorgang, was man als Therapeutin wissen und akzeptieren musste, und dieser sensible intime Prozess durfte auch nicht durch Zurückweisung gestört werden. »Psychotherapeutische Prozesse gehen nur selten ohne eine Phase vonstatten, in der ein Patient seinen Psychologen nicht vergöttert«, hatte Alina einmal erklärt. »Und je nach Symptomatik muss man diese Phase stillschweigend aussitzen oder bei Bedarf gegensteuern. Aber niemals so stark, dass der Patient sich abgewiesen oder durchschaut fühlt, denn dann macht er sofort
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