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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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klarkommen. Denn Sie wissen ja: Kein einziger Punkt bedeutet kein einziges Licht. Und die im Dunkeln, die sieht man nicht!«
    Seine vollbusige Assistentin reichte ihm, wie immer am Ende der Show, ein gigantisches Glas Tequila Sunrise, und er prostete dem Publikum zu, während der Abspann einsetzte und eine HipHop-Version des traditionellen Steigerliedes ertönte.
    Lotti griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Es war kurz vor sieben Uhr in der Frühe, gleich würde Pfleger Carsten zum Waschen kommen, und sie wollte nicht, dass er sie weinen sah. Sie musste jedes Mal weinen, wenn das Steigerlied auf die Zeilen kam:
    Und er hat sein helles Licht bei der Nacht
    Und er hat sein helles Licht bei der Nacht
    Trotzdem verpasste sie keine Folge der Unterhaltungsshow »Das Bergwerk – Ich bin ein Promi, Glückauf, Glückauf!« und sah sich jeden Morgen die Wiederholung an, und in der Bildzeitung las sie alles, was über die Kandidaten geschrieben wurde. Die Sendung erreichte sensationelle Einschaltquoten.
    Die weißblonde Schlagersängerin, die der Moderator Jacqueline Dingsbums nannte, hieß in Wahrheit Jacqueline Webermann und hatte es vor ein paar Jahren in die Vorrunde zum Grand Prix geschafft. Aber seit sie im Bergwerk war, verschüttet mit anderen vergessenen Prominenten, die wieder berühmt werden wollten, kam ihr Song den ganzen Tag im Radio, wo sie nur noch als Jacqueline Dingsbums anmoderiert wurde.
    Lotti wünschte sich, dass Jacqueline bis zum Schluss in der Grube bleiben und damit der Sieger, »der Steiger«, werden würde. Inzwischen wurde jeden Tag ein Prominenter vom Fernsehpublikum aus der stillgelegten Steinkohlezeche Graf Bismarck 1 in Gelsenkirchen herausgewählt und in der Rettungskapsel nach oben gebracht. Es handelte sich um die originale Rettungskapsel Phönix 2, mit der im letzten Sommer die chilenischen Bergleute aus der eingestürzten Grube in San José gerettet worden waren.
    Lotti war in Berlin geboren, aufgewachsen und fast gestorben, sie kannte sich nicht mit dem Ruhrpott aus, mit den Gruben und Traditionen, das lernte sie erst mithilfe der Show, und sie war traurig darüber. Sie dachte, hätte ich damals nur das Steigerlied gekannt. Manchmal sang sie es leise vor sich hin, vor allem nachts, wenn sie nicht schlafen konnte.
    Glückauf, Glückauf! Der Steiger kommt
    Und er hat sein helles Licht bei der Nacht
    Und er hat sein helles Licht bei der Nacht
    Schon angezündt’, schon angezündt’!
    Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann griff sie nach dem Kamm auf dem Nachttisch, und als der blonde Pfleger Carsten ins Zimmer kam, hatte sie sich halbwegs hergerichtet.
    »Guten Morgen, Frau Kaleschke!«, rief er und ruckte mit dem roten Kopf. »Dann wollen wir mal!« Er legte ihr die Manschette um den Oberarm und maß den Blutdruck. »Hundertvierzig zu hundert«, murmelte er. »Wird besser. Gut geschlafen?«
    »Nicht so gut«, sagte Lotti. »Mich hat der Baukran geweckt. Das geht den ganzen Tag so weiter.«
    »Warum sitzen Sie auch immer nur in Ihrem Zimmer?«, fragte der Pfleger. »Sie können doch auch in den Wintergarten gehen. Da kriegt man von dem Baulärm nichts mit.«
    »Aber ich kann doch nicht gehen.«
    »Sie könnten schon, wenn Sie wollten.«
    »Im Wintergarten sind diese armen Menschen von der B. Die wilde Kapusta, Luried oder wie die alle heißen. Ich kann das nicht mit ansehen, da bricht mir das Herz.«
    »Ach, Frau Kaleschke«, seufzte Pfleger Carsten, »der Wintergarten ist nur für die A, das wissen Sie doch. Ich glaube, Sie suchen bloß eine Ausrede. So, hier ist Ihr Rollator. Sie können jetzt aufstehen, ich halte Sie fest.«
    Vorsichtig setzte Lotti die Füße auf den glänzenden, gelben Boden.
    »Ich falle! Ich falle!«, rief sie.
    »Aber ich halte Sie doch fest!«
    Mühsam schob sie den Rollator in Richtung Badezimmer, der Pfleger stützte sie. Sie dachte an die Streichholzflugzeuge ihres Bruders. Sie hatte ihm die Streichhölzer aus den Aschenbechern zusammengesammelt, in den Königgrätzer Frühstücksstuben, damals, in Kreuzberg am Anhalter Bahnhof, und er baute daraus die Messerschmitt und später den Greif mit der großen, runden Bugkanzel.
    Die ganze Welt bestand aus Streichhölzern, auch Lottis Knochen, und jemand zog ihr die Hölzer weg, täglich eins mehr. Nichts war noch fest, weder die bewaldeten Hügel, die Lotti durchs große, runde Fenster sehen konnte, noch Berlin in der Ferne. Selbst Gott hatte Löcher und Lücken bekommen, und immer

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