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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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sich um. »Können Sie einmal nicht in Rätseln sprechen?«, schnarrte er.
    »Philippe Pinel hat die Geisteskranken befreit«, sagte Xaver. »Und Sie haben mich wieder in Ketten gelegt, zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution. Das ist die Involution, die Rückbildung des bereits Erreichten. Ein unheimlicher Vorgang. Evolution, Revolution, Involution.«
    »Wenigstens können Sie wieder denken.« Vosskamps Stimme wurde weicher. »Haben Sie mit Ihrem Text angefangen?«
    »Ich will ja, aber die lassen mich nicht.«
    »Wissen Sie, was mich manchmal verzweifeln lässt?«, fragte Vosskamp. »Dass diese totale Institution nicht nur die Patienten unterwirft, sondern auch die Ärzte, sogar den Chef. Da will man sich einmal auf einen Patienten einlassen, statt ihn nur routiniert abzufertigen, und wird sofort daran gehindert. Sie sind nicht der Einzige, dem hier die Hände gebunden sind, Herr Kollege.«
    »Sie müssen die Schrift auf Annikas Flügeln lesen …«, sagte Xaver.
    Aber Vosskamp unterbrach ihn: »Einen wie Sie, den kann man doch nicht so verdämmern lassen. Ich will, dass Sie wieder auf die Beine kommen. Aber Sie müssen mithelfen. Ich lasse Ihnen einen Laptop bringen. Wenn alles gut läuft, können Sie am Freitag zurück auf die A.«
    »Okay.«
    Vosskamp klopfte Xaver auf den Oberarm, dann ging er. Eine Schwester kam herein, löste die schwarzen Knöpfe mit einem roten Magneten, den sie am Schlüsselbund trug, von den Messingstiften in den Löchern der Riemen und befreite Xaver. Sie führte ihn in ein Vierbettzimmer, wo er auf seine alten Kameraden traf, den trippelnden Polizisten, den Mann ohne Strümpfe und den Dicken. Der hatte ein Handy und sprach mit seiner Mutter.
    »Von den Milchschnitten vier Packungen. Und den Mangosaft von Happy Day. Nicht wieder den Apfel-Maracuja-Saft, sondern den Mangosaft, ja? Und Nippons, wie letztes Mal. Und die Erdnussflips von Chio. Aber bloß nicht die Chili-Tortilla-Chips. Bloß nicht!« Nachdem er das Gespräch beendet und sein Handy beiseitegelegt hatte, flüsterte er in die hohle Hand: »Dreiundzwanzig-vier-eins, bitte kommen. Bereitmachen zum Start. Benötige Verstärkung. Vier Laserkanonen und zwölf Funkgeräte mit Morsecode. Wir werden unterwandert. Over.«
    Das Zimmer roch nach Schweiß und ungewaschenen Haaren. Als Xaver die Toilette aufsuchte, sah er, dass sie mit Kot bespritzt war, auch der Fußboden ringsum war voller Kot, hellbraune Lachen mit kleinen Brocken, dazwischen lagen aufgeweichte Klopapierknäuel. Xaver gab der Schwester Bescheid.
    »Die Putzfrau kommt erst morgen wieder«, sagte die.
    »Aber das Klo ist völlig zugeschissen.«
    »Wir können auch nichts dafür, dass uns die Mittel so gekürzt wurden. Suchen Sie sich eine andere Toilette. Wenn ich Zeit habe, kümmere ich mich um Ihre.«
    Sie eilte davon. Den Rest des Abends verbrachte Xaver auf einem zerschlissenen Sessel im Flur vor der Glaswand des Speisesaals und tippte die Expertise in den Laptop, den man ihm gegeben hatte. »Erfassung von Massenbewegungen und Deformationen am Berliner Teufelsberg durch differenziell-interferometrische Auswertungen multitemporaler SAR-Daten«, titelte er.
    Abendbrot aß er keines. Er sah nur von seinem Platz aus der langen Schlange zu, die sich im Speisesaal vor dem Buffet aufstellte. Es gab eine Platte voller Schinken, und jeder wollte davon etwas haben. Die letzten in der Reihe bekamen nur noch Schmierkäse. Eine Schwester passte auf, dass sich jeder nur einen Pudding nahm, die Becher waren abgezählt. Das Obst rührte keiner an.
    Später kam die Mutter des Dicken mit einer vollen Einkaufstüte auf die Station. Die Mutter war klein, sie hatte eine erschlaffte Dauerwelle und ein ratloses Gesicht. Der Dicke eilte auf sie zu, riss ihr die Tüte aus der Hand und schrie: »Hau ab, hau bloß ab!« Er rannte mit der Tüte zurück auf sein Zimmer.
    Die kleine Mutter blieb vor der Scheibe des Dienstzimmers stehen und rührte sich nicht, bis eine Schwester herauskam und sagte: »Er meint es nicht so, er ist krank. Er weiß jetzt nicht, wer Sie sind. Aber das wird schon wieder.«
    Die kleine Mutter blieb noch eine Weile stehen und schaute den Gang entlang, auf die Zimmertür ihres Sohnes, die geschlossen blieb. Dann ging die Mutter, die Türvorrichtung piepte, hinter ihr fiel das Panzerglas ins Schloss.
    Der Rest des Abends blieb ruhig. Einmal stieg die wilde Kapusta auf einen Tisch im Speisesaal und wurde ermahnt. Daraufhin zog sie sich einige Male um und ging

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