Teufelsberg: Roman (German Edition)
bin es, Papa«, sagte er.
»Papa!«, rief sie und begann zu weinen.
»Warum weinst du denn?«, fragte er. »Herzchen, was ist denn?«
»Ach, Papa.«
»Wo ist Mama? Ich bin in der Klinik, und keiner will mir was sagen.«
»Du weißt, wo du bist? Weißt du auch, dass ich da war?«
»Du warst bei mir?«, fragte Friedrich. »In Berlin?«
Käthchen schwieg eine Weile. »Ja«, sagte sie dann zögernd, »ich habe dich hingebracht. Und ich komme bald wieder. Ich muss hier bloß noch einiges erledigen.«
»So«, sagte er und wurde streng. »Jetzt sagst du mir, was los ist.«
Wieder schwieg seine Tochter, minutenlang. Er kannte das, sie schwiegen gern miteinander und hörten den Geräuschen in der Leitung zu, dem Puckern und Klicken und den vorbeihuschenden Gesprächsfetzen anderer Leute, den Schatten der Worte, aber diesmal wurde er ungeduldig. Er räusperte sich.
»Ich bin ja bald wieder bei dir, Papa«, flüsterte sie schließlich.
»Käthchen!«
»Du hast Alzheimer.«
»Ich habe dich nicht gefragt, was ich habe, sondern wo deine Mutter ist.« Er schrie fast.
»Papa …« Sie weinte wieder.
Dann hörte Friedrich eine Männerstimme im Hintergrund.
»What’s going on, sweety?« Es war Jeff, ihr Ehemann.
»It’s Dad«, antwortete Käthchen.
»Dad!«, rief Jeff in den Hörer. »How are you? Is everything all right? Great to hear your voice!«
»I would like to talk to my daughter«, sagte Friedrich mit seinem deutschen Akzent.
»Sure«, sagte Jeff, »here she is, go ahead.«
Er flüsterte mit Käthchen, aber Friedrich konnte ihre Worte nicht verstehen.
»Papa?«, fragte Käthchen.
»Ja.«
»Wir kommen bald wieder rüber.«
»Du wolltest mir sagen, was mit Mama ist.«
»Ja. Ich sage es dir, wenn ich bei dir bin.«
»Käthchen!«, rief Friedrich. Er hörte ihr Atmen, plötzlich drang Musik aus dem Hörer.
»Ihr Guthaben ist abgelaufen«, flötete eine weibliche Stimme. »Bitte laden Sie Ihre Karte auf. Den Automaten finden Sie in der Eingangshalle.«
»Käthchen?«, fragte Friedrich noch einmal, und wieder ertönte die Musik.
Er presste den Hörer so fest an sein Ohr, dass es wehtat. Da sprang die Tür auf, und Xaver stürmte ins Zimmer, kippte eine Tasche auf dem Fußboden aus, wühlte und drehte sich um, zum Telefon.
»Sie hat mir nichts gesagt«, flüsterte Friedrich.
»Was? Wer?«, fragte Xaver. Er hatte einen jagenden Blick.
»Meine Tochter«, sagte Friedrich.
»Ich brauche das Telefon.«
»Und meine Frau?«, fragte Friedrich.
»Später. Darf ich?«
Xaver griff nach dem Telefon, aber Friedrich wollte den Hörer nicht hergeben, er wollte Käthchen und Ursula nicht hergeben, er wollte zurück in Ursulas Schichten, er wollte zurück in den Hafen von New York und ihren Glanz auf dem Wasser suchen, und er wollte endlich zurück nach Berlin. Er hatte sein Leben lang geschmunzelt, weil er wusste, dass es Berlin noch gab, irgendwo, aber jetzt saß er in einem Irrenhaus auf einem Trümmerberg und war alt und krank. Aber vielleicht, dachte er, vielleicht ist da draußen im Wald ein Bär, der sich losriss, als die Bomben fielen, der in den Wald lief mit zerfetzter Schnauze und dort glücklich wurde. Und wenn es so ist, hatte der ganze Krieg einen Sinn.
Friedrich hielt immer noch den Hörer fest, er war an den Hörer gebunden und verstand überhaupt nichts, und als Xaver ihm den Hörer aus der Hand riss, schrie er auf.
Am nächsten Tag fuhren alle, Therapeuten und Patienten, zur Musiktherapie in den Wald. Nur Xaver und die kleine Annika fehlten. Friedrich wählte seinen Platz im Bus so aus, dass er vor Falko, dem Betrüger, saß, der wiederum neben Lotti Platz genommen hatte. Die alte Frau wartete seit sechsundsechzig Jahren auf ihren Verlobten. Er war im Krieg verschollen. Friedrich konnte sie verstehen, auch er wartete seit sechsundsechzig Jahren, nicht auf einen Menschen, sondern auf eine Stadt. Der Unterschied war nur, dass Lotti ihr Warten ernst nahm, während er wusste, es war ein Spiel.
Sie stiegen am alten Wasserwerk aus, und Lotti hatte Angst, aber sie musste mit in den Keller, wo alle ein Getöse mit irgendwelchen Instrumenten veranstalteten. Einer der Therapeuten tobte vor einem Gong herum und schlug auf ihn ein, der Ton raste durch den Raum und bollerte gegen die Wände. Die Therapeuten bekamen leuchtende Augen, sie waren, erkannte Friedrich, glücklich, dass endlich irgendwas passierte und dass ihre Worte ein Echo fanden in diesem großen, dunklen Raum. Auch die Krankheiten der
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