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Teufelsfrucht

Teufelsfrucht

Titel: Teufelsfrucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hillenbrand
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den November übergegangen war, hatte der noch warme Lac Léman eine neblige Suppe ausgespuckt, einen undurchdringlichen Dunst, der alles unsichtbar werden ließ, was weiter als zehn Meter entfernt war. Kieffer tastete sich Meter um Meter den Quai du Mont Blanc entlang und versuchte, im dichten Nebel die Namen der Schiffe auszumachen. Er konnte kaum die Hotels an der Uferpromenade erkennen, geschweige denn das andere Ufer.
    Endlich fand er den Ausflugsdampfer. Er war der größte, den er bisher im Genfer Hafen gesehen hatte. Vor Kieffer ragte eine weiße Stahlwand in den Nebel. Er konnte die Positionsleuchten am Heck des Schiffes ausmachen und schätzte, dass die Sulpice 70 Meter lang sein musste, wenn nicht länger. Er zeigte dem Wachmann seinen Passierschein und kletterte an Bord.
    Auf den Unterdecks herrschte Hochbetrieb. Links und rechts überholten ihn Lieferanten, Reinigungskräfte und Techniker, die alles für die Abendveranstaltung vorbereiteten. Auch in der Kombüse wurde bereits gearbeitet. Der lange, schlauchförmige Raum, einer von dreien, die Esteban ihm auf der Karte gezeigt hatte, war voller Vorbereitungsköche. Mehrere waren dabei, einen riesigen Berg von Hummern zu zerlegen – Estebans wüste Drohungen gegenüber dem Lieferanten hatten also offenbar Wirkung gezeigt.
    Fünf Männer standen nebeneinander, vor sich riesige Plastiktonnen voller homari americani . Die Hilfsköche waren damit beschäftigt, die Tiere im Akkord zu töten. Eigentlich, dachte Kieffer, müssten sie dafür kochendes Wasser verwenden. So war es gesetzlich vorgeschrieben. Aber niemand hielt sich daran, auch Estebans Truppe nicht. Dutzende oder gar Hunderte Hummer mithilfe siedenden Wassers umzubringen, war ungeheuer zeitaufwendig, weil man jeweils nur ein oder zwei Tiere in den Topf befördern konnte. Ansonsten kühlte das Wasser zu stark ab und die Tiere taten nicht, was man von ihnen erwartete, nämlich schnell zu sterben.
    Deswegen verfuhren auch diese Köche nach der althergebrachten Methode. Sie rammten dem Hummer die Spitze ihres Chefmessers in den Nacken und drückten die Klinge nach vorn, um den Schädel zu spalten. Mit einer fließenden Bewegung drehten sie das noch zappelnde Tier dann mit der freien Hand auf den Rücken und teilten es mit einem beherzten Schnitt der Länge nach in zwei Hälften.
    Die halbierten Hummer landeten in einem Korb auf der Mittelablage, wo sie von einem commis abgeholt wurden. Der übernahm nun die knifflige und zeitraubende Aufgabe, das Fleisch im ganzen Stück aus den Scheren zu lösen.
    Insgesamt 800 Maine Lobster hatte Esteban bestellt.720 brauchten sie, 80 waren Reserve. Spätestens gegen 18 Uhr, so schätzte Kieffer, mussten die poissonniers fertig sein – weil die Küche danach für andere Dinge benötigt würde. 720 Hummer in drei Stunden, das machte 240 Tiere pro Stunde, was wiederum 4 Stück pro Minute entsprach. Drei Stunden lang mussten diese Vorbereitungsköche alle 15 Sekunden lang einen lebenden Hummer in einen toten verwandeln, der prêt-à-cuire war. Diese Art stupider Akkordarbeit war einer der Gründe dafür, dass Kieffer eigentlich nie wieder eine Großküche hatte betreten wollen.
    Im hinteren Teil der Küche erspähte er Hambichler. Er hatte den ehemaligen Sternekoch und Träger diverser Goldmedaillen nie persönlich getroffen, erkannte ihn aber sofort. Kieffer fragte sich, ob dies auch der Fall gewesen wäre, wenn er nicht erwartet hätte, Hambichler hier anzutreffen. Hätte er diesen Mann auch auf der Straße erkannt oder in einer verrauchten Bar? Er bezweifelte es. Denn der Ausnahmekoch hatte kaum noch Ähnlichkeit mit jenem breit grinsenden Charmebolzen, den Kieffer von den Covers diverser Feinschmeckermagazine kannte.
    Wie eine gramgebeugte Großmutter tapste Hambichler durch die Küche. Ab und zu hustete er in ein besticktes Taschentuch, das er mit seiner Linken umklammert hielt. Sein wächserner Teint erinnerte Kieffer an den eines ungebratenen Spanferkels. »Herr Hambichler? Xavier Kieffer. Ich nehme an, Leo hat Sie bereits vorgewarnt.« Der Bayer blickte ihn aus müden kornblumenblauen Augen an, die halb von schweren, geschwollenen Lidern bedeckt waren. »Scho recht. Eahna Huif kemmt grad recht. So a groß’ Essen mit vui Aushilfspersonal,no’ dazu auf einem Schiff … des wird ned leicht. Wo kochen’s sonst?«
    Er hatte einige Mühe, Hambichler zu verstehen. Der Bayer sprach mit einem breiten Akzent, außerdem hatte Kieffer den Eindruck, dass sein Kollege

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