Teufelsfrucht
höflichem Applaus empfangen würde. Deshalb war er nicht auf das Klatschkonzert gefasst, mit dem das Publikum den Schweizer begrüßte. Viele johlten und stampften mit den Füßen, als Wyss ruhigen Schrittes die Bühne betrat.
»Danke, Philippe, vielen Dank, sehr verehrte Damen und Herren. Es ist mir eine große Freude, hier sprechen zu dürfen, und es ist mir, wenn ich das hinzufügen darf, auch ein großes persönliches Anliegen.« Im Saal war es nun ganz still geworden. »Denn unsere Branche, diese wichtige Branche, die Milliarden von Menschen jedenTag mit qualitativ hochwertigen Nahrungsmitteln versorgt, die ihnen ein längeres Leben und Gesundheit beschert, in einem Ausmaß, das in der menschlichen Zivilisationsgeschichte beispiellos ist – diese Branche ist seit einiger Zeit Gegenstand einer Hexenjagd, die ebenfalls ohne Präzedenz scheint.«
Wyss sprach mit bedächtiger Stimme und leicht gesenktem Kopf. Dabei ging er gemäßigten Schrittes auf und ab. Kieffer fiel auf, dass der Hüetli-Vorstand weder ein Manuskript in der Hand hielt noch von einem Teleprompter ablas. Auf der Leinwand hinter Wyss wurde nun eine Auswahl von Magazincovers eingeblendet. »Dies hier sind nur ein paar der Überschriften aus dem vergangenen Jahr – erschienen in Deutschland, Frankreich, den USA . ›Die Lebensmittelpanscher‹. ›Wie wir von der Industrie vergiftet werden‹. ›Aromatisierter Müll‹. Viele unter Ihnen, meine lieben Freunde, werden vielleicht denken, dass dieser Sturm vorüberzieht. Dass all diese Anfeindungen zwar unerfreulich sind, aber keineswegs so beispiellos, wie ich eben behauptet habe. Schließlich geraten Großunternehmen immer wieder ins Visier der Medien. Mal ist es der Chemiesektor, der Flüsse vergiftet haben soll. Mal werden die Autohersteller angeprangert, weil ihre Pkw zu viel Kohlendioxid emittieren.
Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was uns derzeit widerfährt, hat eine völlig andere Qualität. Warum? Weil die Forderungen, die man an uns richtet, jeder Logik, jeder Vernunft entbehren. Ein Pkw-Hersteller kann kleinere Motoren in seine Autos einbauen und so der Forderung nach Umweltfreundlichkeit Rechnung tragen. Und ein Chemiekonzern installiert einfach neueFiltersysteme. Und wenn man uns vorwürfe, wir schütteten zu viel Zucker in ein Kindermüsli oder verwendeten einen Rohstoff, der unter Naturschutz steht – was wir natürlich nicht tun«, vereinzeltes Gelächter ertönte im Publikum, »dann würden wir darauf umgehend reagieren. Wir alle sind ja, anders als diese Food-Aktivisten es die Öffentlichkeit glauben machen wollen, an den bestmöglichen Produkten interessiert. Das ist doch überhaupt keine Frage.«
Wyss zeigte nun mit der Rechten ins Publikum. »Aber die Kritik an den großen Lebensmittelkonzernen ist so absolut, so rigoros und vor allem so irreal, dass wir, anders als Konzerne in den gerade genannten Branchen, keinerlei Möglichkeit haben, die gegen uns geäußerten Vorwürfe zu entkräften. Was genau meine ich damit? Lassen Sie mich dazu ein wenig ausholen und Ihnen etwas zeigen.« An der Wand erschien nun die Großaufnahme einer Pflanze mit kleinen gelben Blüten. »Vanilla planifolia. Die Azteken nannten sie cacixanatl, die tiefgründige Blume. Köche bezeichnen die aus ihren Kapselfrüchten gewonnene Vanille als die Königin der Gewürze. Nicht ganz zu Unrecht, denn Vanille ist rar. Und sie ist teuer.« Auf der Leinwand erschien nun das Bild einer Vanilleschote.
»Warum ist Vanille so kostbar? Zum einen, weil es nur wenige Anbaugebiete gibt. Zum anderen, weil ihre Herstellung geradezu absurd kompliziert ist. Jede Vanillepflanze wird von Hand befruchtet. Mit einem kleinen Stöckchen muss das Jungfernhäutchen der Blüte durchstochen werden, welches zwischen dem männlichen Pollenpaket und der weiblichen Blütennarbe liegt.« Die Leinwand zeigte das Bild einer grünen Vanilleschote, dieein bisschen wie eine grüne Bohne aussah. »Nur dann erhalten wir diese Kapseln, die noch recht wenig mit jener Gewürzvanille gemein haben, die Sie heute Abend auf Ihrem Dessert vorfinden werden. Die abgeernteten Schoten müssen nämlich zunächst noch einem überaus komplexen Fermentationsverfahren unterzogen werden, der sogenannten Schwarzbräunung. Sie dauert viele Wochen und ist ein weiterer Grund dafür, dass Vanille so teuer ist. Der letzte und vielleicht offensichtlichste ist natürlich, dass Vanille, vor allem dank des enthaltenen Aromastoffs Vanillin, äußerst
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