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Teufelsfrucht

Teufelsfrucht

Titel: Teufelsfrucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hillenbrand
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wohlschmeckend ist.«
    Kieffer war nicht ganz klar, worauf Wyss mit seinen Ausführungen hinauswollte – aber es war offensichtlich, dass er das Publikum komplett in seinen Bann gezogen hatte. Es wurde weder getuschelt noch verschwanden Gäste, um vor der Tür rauchen zu gehen. Alle Augenpaare waren auf den hageren Mann mit dem schwarzen Rollkragenpullover geheftet, der auf der Bühne auf und ab marschierte. Hinter dem Schweizer tauchte nun das Bild eines glücklich lachenden Kindes auf, vor dem ein großer Becher Vanilleeis mit Schokoladensoße stand. »Eiscreme, Kekse, Coca-Cola – zur Herstellung all dieser Produkte braucht man Vanillearoma. Es ist deshalb der weltweit wichtigste Aromastoff. Glücklicherweise können wir Vanillin seit Jahrzehnten problemlos synthetisieren. Lange hat das niemanden gestört. Denn chemisch betrachtet ist das nach der Haarmann-Methode gewonnene Vanillin identisch mit jenem, das wir auch in der tiefgründigen Blume der Azteken vorfinden – die für den modernen Lebensmittelchemiker trotz aller mystischen Überhöhung eben auch nur eine Aneinanderreihung von Kohlenstoffketten ist. Das ist vielleichtunromantisch, es ist aber eine wissenschaftliche Tatsache.
    Neuerdings jedoch ist Vanillin angeblich Teufelszeug. Ich zitiere Arno Wels, den Vorsitzenden der Ihnen sicherlich bekannten, selbst ernannten Verbraucherschützer von Food Focus«, Unruhe machte sich im Publikum breit, es gab vereinzelte Buh-Rufe, »der Folgendes gesagt hat: ›Die Industrie will uns glauben machen, Vanilleeis enthalte echte Vanille. Dabei benutzt sie aus reiner Profitgier das viel billigere, künstlich hergestellte Vanillin.‹
    Food Focus und die von ihnen gefütterten Medien insinuieren also, Vanillin sei minderwertig – eine lachhafte Behauptung, denn ich erwähnte bereits, dass es chemisch betrachtet keinen Unterschied zwischen Vanillin und Vanille gibt.« Wyss hatte sich inzwischen in Rage geredet. Seine bedächtige Art war sichtbarer Erregung gewichen. Er gestikulierte mit den Armen, seine Wangen waren gerötet.
    »Der Hauptvorwurf unserer Kritiker ist letztlich stets der gleiche. Er lautet, wir würden aus Profitgier hochwertige Zutaten durch minderwertige ersetzen – Vanille durch Vanillin, Zimt durch Kumarin, Erdbeeren durch Erdbeeraromen. Aber was die Medien den Menschen nicht sagen, ist die bittere Wahrheit.« Der Projektor warf nun eine Infografik an die Wand, die zwei Balken zeigte. Der eine füllte die Leinwand von links nach rechts beinahe aus, der andere war lediglich ein winziger Stummel. »15 000 Tonnen Vanillin konsumiert die Menschheit im Jahr. Aber die Vanillefrüchte, die weltweit geerntet werden, enthalten nur etwa 40 Tonnen Vanillin. Ich wiederhole: Nur 40 Tonnen! Diese Menge reicht nicht einmal, um den Bedarf eines Landes wie Deutschland zudecken.« Wyss ließ die Zahl bei den Zuschauern einen Moment wirken, dann fuhr er fort. »Genauso verhält es sich mit vielen anderen populären Lebensmitteln. Alle wollen Parmesan über ihre Spaghetti raspeln, aber die Jahresproduktion Oberitaliens reicht nicht einmal für den europäischen Bedarf. Jeder möchte Pesto mit echten Pinienkernen, aber es gibt nicht genug pinoli.
    Sie sehen also, liebe Freude, warum die Forderungen unserer Gegner so absurd sind – diese Food-Fundamentalisten blenden die Realität völlig aus! Food Focus, Amis de Fromage und wie sie alle heißen – sie wollen den Verbrauchern vorgaukeln, es sei möglich, Milliarden von Menschen mit handgeschöpftem Jura-Käse und feinster Madagaskar-Vanille zu versorgen – aber das ist es nicht. Es ist auch keine Frage des Preises, sondern es ist schlichtweg unmöglich.«
    Er war nun stehen geblieben und schaute ins Publikum. Als der Schweizer den Blick schweifen ließ, bildete Kieffer sich ein, dass Wyss ihm zunickte. Konnte das sein? Einen Moment lang war er zu geschockt, um zu reagieren. Inzwischen war der Chemiker wieder in die Mitte der Bühne zurückgekehrt und sprach weiter. »Deshalb müssen wir aufhören, uns zu entschuldigen, und der Gesellschaft wieder klarmachen, welche ungeheure Leistung wir für sie vollbringen. Ohne uns würden Millionen von Kindern niemals erfahren, wie köstlich Vanilleeis schmeckt, Millionen von Menschen erführen niemals, wie wunderbar die säuerlichen Aromen des Parmesans mit Spaghetti Arrabiata harmonieren.
    Ohne uns wäre ihr Leben ärmer, ihre Diät fade und eintönig. Und ihre Lebenserwartung wäre geringer. Wir müssen den Menschen

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