Teufelsjäger (Die Mark Tate-Saga) (German Edition)
Besonderheiten. Trotzdem erregte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Priester? Auf die Darstellung ihrer Göttin Kali, in deren Kopf wir uns befanden, achtete jedenfalls im Moment keiner von ihnen. Es machte uns im höchsten Maße neugierig und ließ uns alle Vorsicht vergessen. Zumal die rituellen Vorbereitungen dort unten abgeschlossen zu sein schienen.
Die Priester setzten sich in Bewegung. Sie stellten sich vor die Seitenwände, keinen Augenblick lang jedoch die uns direkt gegenüberliegende, kahle Wand aus den Augen lassend. Dorthin stellte sich keiner von ihnen. Nur drei blieben in der Mitte der großen Höhlenhalle stehen, bei den hier abgestellten Bahren. Einer noch gesellte sich zu ihnen. Es war der Oberpriester, der oben, in der Tempelruine, das schreckliche Ritual geleitet hatte. Nur war er diesmal anders gekleidet - in eine Art Büßergewand, das aus grob gewebtem Sackleinen zu bestehen schien.
Er blieb eine Weile wie abwartend stehen. Dann ging er auf die gegenüberliegende Wand zu, stellte sich mit dem Rücken davor und riß die Arme hoch. Jegliches Geräusch verstummte. Bis er zu einem schaurigen Geheul anhub. Worte in diesem eigenartigen indischen Dialekt folgten. Ich wünschte mir dabei Stephen Millair wieder herbei, der den Dialekt gut übersetzen konnte. Diesmal mußten wir leider auf seine Übersetzung verzichten.
Immer wieder stimmten die anderen Priester im Chor mit ein. Bis einer der drei Priester mitten in der Höhlenhalle sich niederbeugte und das mittlere Laken wegzog. Ein nackter Mann lag rücklings darunter, die Hände über dem Bauch gefaltet. Er bewegte sich zwar nicht, aber er war keineswegs bewußtlos oder gar tot. Nein, er war sogar quicklebendig. Ich sah es an seinen schreckgeweiteten Augen.
Sie hoben ihn von der Bahre. Er blieb dabei steif wie ein Brett. Sie stellten ihn auf die Füße, mit dem Gesicht zum Götzen. Jetzt wäre es endgültig an der Zeit gewesen, unseren Beobachtungsplatz zu verlassen, aber wir rührten uns nicht vom Fleck, so hielt uns das Geschehen in seinem Bann.
Der Oberpriester kam gemessenen Schrittes herbei und stellte sich hinter den Unglücklichen. Das war der Zeitpunkt, da ich diesen endlich erkannte: „Gott, das ist ja einer der höchsten Geistlichkeiten des Hinduglaubens hier in Nagarpur, also im Grunde genommen einer der mächtigsten Männer dieser Stadt!“ flüsterte ich Don zu.
„Du kennst ihn?“ wunderte sich Don.
„Vergiß nicht, daß ich nicht das erste Mal in Nagarpur bin!“ erinnerte ich ihn.
Kein Wunder, daß ich den Hindupriester nicht gleich erkannt hatte - ohne seine vorgeschriebenen Gewänder! Ich betrachtete ihn genauer. Er wirkte wohlgenährt. Aber wie lange mochte er schon in der Gefangenschaft der Kali-Priester verbracht haben? Verletzungen waren an seinem nackten Körper keine zu erkennen. Aber er hatte schreckliche Angst, die nur aus seinen Augen sprach, während sein Körper völlig gelähmt zu sein schien. Und seine Angst war durchaus begründet.
Der hinter ihm stehende Oberpriester hatte plötzlich ein reichverziertes Schwert in beiden Händen. Er hob es über den Kopf. Im gleichen Moment löste sich die Lähmung von dem Gefangenen. Es kam so überraschend für ihn, daß er stöhnend zu Boden sank. Er drehte sich herum und sah den Oberpriester mit dem Schwert über sich stehen. Doch noch ehe er zu einer Abwehrbewegung fähig war, sauste das Schwert zum tödlichen Streich auf ihn herab.
*
Es blieb ruhig in der Priesterschar, als der Oberpriester von seinem sterbenden Opfer abließ und sich wieder der gegenüberliegenden Wand zuwandte. Er stützte sich auf seinem blutigen Schwert ab, während sich der Felsen drüben zu öffnen begann.
Ich blinzelte überrascht und wollte es gar nicht glauben, aber es war ganz deutlich von unserem Standort aus zu sehen: Der Felsen öffnete sich wie ein Vorhang. Als würde er in Wahrheit nicht aus massivem Gestein bestehen, sondern aus locker fallendem Stoff. Dahinter war eine strahlende Lichthölle, und inmitten dieser stand ein Götze, wie ich noch nie einen zu Gesicht bekommen hatte: Das Licht ging unmittelbar von ihm aus. Riesig stand er da, mindestens vierzig Fuß hoch, die vier Arme ausgebreitet. Nirgendwo konnte ich einen Zugang entdecken - außer dem Felsen, der sich auf wahrhaft gespenstische Weise vor ihm geöffnet hatte.
Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich begriff schlagartig, daß das dort drüben keineswegs ein weiteres Götzenbildnis war, sondern
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