Teufelsleib
Lazarus. Sie war das schwarze Schaf der Familie und wurde an manchen Stellen der Schrift nur noch die Sünderin genannt. Sie stammte aus bestem Haus, sie war sogar königlicher Abstammung, ihrem Bruder Lazarus gehörte halb Jerusalem, heute würden wir sagen, diese Menschen waren Teil der High Society. Aber was tat Maria, als Christus eines Tages in der Stadt war und einkehrte? Sie kam mit Nardenöl, dem kostbarsten Öl überhaupt, Tränen fielen auf die Füße von Jesus, und Maria trocknete diese Tränen mit ihren Haaren und salbte ihn mit diesem Öl.« Winkler hielt inne und fuhr kurz darauf fort: »Sie war keine schlechte Frau, sie war nur gedankenlos, ruhelos, rastlos – oder sie wusste mit ihrem Reichtum nichts anzufangen. Aber schließlich kam es zur Begegnung mit Christus, und sie wurde von der verachteten Sünderin zur reuigen Sünderin. Christus hat ihr vergeben, wofür ihr Umfeld anfangs nicht viel Verständnis aufbrachte. Aber sie hat mit ihrem Vermögen in der Folgezeit Christus finanziell unterstützt und damit viel Gutes getan. Und sie war die Erste, die den auferstandenen Christus gesehen hat …«
»Was wollen Sie mir damit sagen?«
»Ganz einfach: Die Frauen, die bei mir zur Beichte waren, wussten, dass ihr Lebenswandel sich nicht mit Gottes Geboten vereinbaren ließ. Deshalb kamen sie zu mir. Aber waren sie deshalb schlechte Menschen? Ich bin kein Richter, Gott allein richtet.«
Brandt trank von dem Tee und stellte die Tasse auf den Tisch. Er überlegte und fragte dann: »Haben diese Frauen auch Ihre Gemeinde finanziell unterstützt? Geld genug hatten sie, jedenfalls Frau Zeidler und Frau Maurer.«
»Ich weiß es nicht, ich habe einige Male sehr großzügige Spenden erhalten, allerdings anonym und in bar, weshalb ich nicht sagen kann, ob sie von diesen Frauen stammten. Noch etwas Tee?«
Brandt nickte nur und ließ das Gesagte auf sich wirken.
»Und Sie sind sicher, dass niemand außer Ihnen von dem Doppelleben dieser Frauen wusste? Oder sogar davon, dass sie bei Ihnen die Beichte abgelegt haben?«
»Wie kann ich sicher sein? Es gibt keine Sicherheit, auch nicht in der Kirche. Es tut mir leid, Ihnen keine andere Auskunft geben zu können.«
»Gibt es noch andere Frauen, die in der gleichen Weise gesündigt haben wie die Ermordeten? Bei Ihnen in der Gemeinde?«, fragte Brandt mit einem rätselhaften Lächeln.
Winkler lächelte etwas verkniffen. »Ich wünschte, ich könnte darauf eine Antwort geben, aber in diesem Fall sind meine Lippen leider versiegelt. Und stellen Sie bitte keine Vermutungen an …«
»Ob ich Vermutungen anstelle oder nicht, braucht Sie nicht zu interessieren. Ich will nur verhindern, dass noch mehr Frauen diesem Wahnsinnigen zum Opfer fallen.«
»Das möchte ich auch. Und ich bete, dass es kein weiteres Opfer geben wird. Aber ich hoffe auch inständig, dass der Mörder jemand ist, den ich nicht kenne. Es ist schon schlimm genug zu hören, wie drei Frauen aus meiner Gemeinde … Es ist ein furchtbarer Gedanke.«
»Ja, und Sie machen sich meiner Meinung nach schuldig, wenn es weitere Frauen gibt, die sich Ihnen anvertraut haben, und Sie dieses Wissen für sich behalten. Nehmen wir einmal an, eine dieser anderen Frauen ist das nächste Opfer. Ist das nicht ein schrecklicher Gedanke? Wie könnten Sie damit leben? Wie können Sie damit leben, frage ich mich, wo Sie doch spätestens nach dem Mord an Frau Schubert wussten, dass der Täter es auf Prostituierte abgesehen hat? Können Sie überhaupt damit leben?«
»Ich muss damit leben.«
»Wie leicht man sich doch als Mann Gottes rausreden kann. Man beruft sich auf dies und jenes und ist fein raus …«
»Hören Sie auf! Sie haben doch keine Ahnung. Es ist nicht leicht, und ich wünschte, ich dürfte darüber sprechen. Ich wünschte, ich hätte die Frauen schützen können, aber das ging nicht. Die Frauen hätten sich nur selbst schützen können.«
»Auch eine sehr einfache Antwort, mit der Sie sich jeder Verantwortung entziehen.«
»Nein, ich entziehe mich keiner Verantwortung, aber das werden Sie nie begreifen, weil Sie
nie
den
Eid abgelegt haben.«
»Sie kennen den Mann«, antwortete Brandt trocken.
»Welchen Mann?«
»Welchen wohl? Den Täter. Sie kennen ihn.«
»Wollen Sie damit etwa andeuten, ich würde einen Mörder decken?«
»Nein, denn das wäre im Moment eine haltlose Unterstellung. Dennoch bin ich sehr sicher, dass es jemand aus Ihrer Gemeinde ist. Und Sie kennen ihn nur zu gut, denn er hat
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