Teufelsleib
bei den Morden in Offenbach. Natürlich ahnten sie, dass der Mörder aus den Reihen der Andreas-Gemeinde kommen könnte, aber heute Nacht würde er ihnen ein neues Rätsel aufgeben.
Während der Bibelstunde und der Diskussion war er aufmerksam und brachte sich mit klugen Bemerkungen ein, auch wenn allein die Vorstellung,
es
nach so kurzer Zeit
wieder zu tun, den Druck in ihm weiter erhöhte und er den Moment herbeisehnte, endlich das Haus verlassen zu können, um sein Werk zu verrichten. Etwa eine halbe Stunde würde er sich noch gedulden müssen.
Nach der Bibelstunde knieten sie sich im Kreis hin, fassten sich bei den Händen, und Erika Trautmann sprach ein Gebet, in dem sie um Segen für die Familie Weber und die Kinder bat sowie um Segen für Linda Maurers Seele. Nach dem Amen bekreuzigten sie sich, standen auf, und er verabschiedete sich, nicht ohne ihnen für den schönen Abend zu danken.
Eine Lüge, die er fast jeden Tag gebrauchte, denn dankbar war er allein dafür, dass er sie gefunden hatte.
Die Trautmanns hatten nicht den Hauch einer Ahnung, dass er ihr ultimativer Alptraum werden würde. Noch war es nicht so weit, noch wiegte er sie in Sicherheit, gab er sich charmant, freundlich und hilfsbereit. Stets war er zur Stelle, wenn er gebraucht wurde. Er half im Haushalt mit, hin und wieder kochte er, manchmal ging er mit Max Trautmann angeln, ein andermal unternahmen sie längere Spaziergänge und unterhielten sich über Gott und die Welt.
Er verbrachte auch viel Zeit mit dem fünfundzwanzigjährigen Thomas und fast noch mehr mit der sechs Jahre älteren Juliane, einer ausgesprochen hübschen und ebenfalls sehr intelligenten Frau, die das genaue, wenn auch jüngere Ebenbild ihrer Mutter war, was leider das Melancholische und Ernste mit einschloss. Juliane gab sich oft spröde und unnahbar, in Wahrheit verdeckte sie ihre Unsicherheit und Angst – vor allem Männern gegenüber, als hätte sie schlechte Erfahrungen gemacht. Sie hatte laut eigenem Bekunden erst eine Beziehung gehabt, die von ihrem damaligen Freund gelöst wurde. Warum, das wussten nur die beiden, sie hatte nie darüber gesprochen. Aber es musste noch etwas anderes in ihrem Leben vorgefallen sein, dass sie, so schön und attraktiv, noch keinen Mann gefunden hatte. Juliane war fast auf den Tag genau zwei Jahre jünger als er, und er wusste, dass sie sich schon in ihn verliebt hatte, als sie sich das erste Mal begegneten. Er wusste aber auch, dass sie erwartete, dass er den ersten Schritt tat, dass er auf sie zuging und ihr seine Liebe gestand. Doch das würde er nicht tun. Noch nicht. Nicht heute, morgen vielleicht.
Und er war auch des Öfteren allein mit Erika Trautmann, sie tranken Tee miteinander, er half ihr im Garten. Sie verstanden sich blendend. Sie war eine belesene und vielseitig interessierte Frau, die ihn, so meinte er, in ihr Herz geschlossen hatte, auch wenn sie ihn manchmal mit einem seltsamen Blick ansah.
Intellektuell, das musste er zugeben, war er mit allen Trautmanns auf einer Ebene, aber emotional trennten sie Universen, was die Trautmanns jedoch nicht ahnten. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft, eine Familie, die fest zusammenhielt. So viel und gerne sie auch gaben, um ihr Privatleben hatten sie einen riesigen Schutzwall errichtet. Doch ihm war es gelungen, in dieses Leben einzudringen, durch unaufdringliche Beharrlichkeit, durch Manipulation, durch Freundlichkeit und vor allem durch seinen immensen Glauben, seine Bibelfestigkeit, sein Engagement in der Kirche. Er hatte sie beeindruckt, und sie hatten ihn wie einen Sohn aufgenommen. Dabei war sein Glaube nur gespielt, denn er glaubte an nichts anderes mehr als an sich selbst. Und zum ersten Mal in seinem Leben genoss er die Macht über andere, auch wenn die nicht merkten, wie sie von ihm sanft und leise in einen Kokon eingeschlossen wurden, aus dem es kein Entrinnen gab.
Sie waren eine gute Familie, sie waren friedliche und warmherzige Menschen, aber das interessierte ihn nicht, es hatte ihn
von Anfang an nicht interessiert.
Und der Tag war nicht mehr weit, da der schlimmste Alptraum für die Trautmanns Wirklichkeit werden würde. Dieser Tag würde kommen, so sicher wie der nächste Morgen, der nächste Frühling, der nächste Vollmond … Und so sicher wie der nächste Mord.
Er verabschiedete sich um halb elf und fuhr zu seinem Haus, um nach dem Rechten zu sehen, um den Anrufbeantworter abzuhören und im Internet eine Information einzuholen. Er wollte, nein,
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