Teufelsmond
Abschiedssegen: «Es segne dich Gott, der Vater, der dich nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Es segne dich Gott, der Sohn, der dich durch sein Leiden und Sterben erlöst hat. Es segne dich Gott, der Heilige Geist, der sich zu seinem Tempel bereitet und geheiligt hat. Der treue und barmherzige Gott wolle dich durch seine Engel geleiten in das Reich, da seine Auserwählten ihn ewiglich preisen. Vater unser, der du bist im Himmel …»
Karla sprach das Vaterunser mit gefalteten Händen, doch sie hatte dabei die Augen nicht geschlossen, sondern ließ ihre Blicke über den kleinen Mühlenfriedhof schweifen. Der Gottesacker lag ruhig und still vor dem Wald. Jetzt, am Vormittag, waren keine Lichter zu sehen. Nicht einmal Nebel hing über den Gräbern. Alles hier wirkte wie auf einem ganz normalen anderen Friedhof auch. So viel Karla auch suchte und spähte, nichts war ungewöhnlich, wenn man von den drei frischen Gräbern einmal absah.
«Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub», zitierte Pater Fürchtegott. Dann hoben die Mühlenknechte und der schwarze Jo den Sarg an und ließen ihn in die Erde hinab. In diesem Augenblick erblickte Karla aus den Augenwinkeln eine Gestalt, die sich im Schutz des nahen Waldes aufhielt. Ihr Kopf schwang herum, und im letzten Augenblick erkannte sie den Knecht des Glenbauern, der sich hinter einem Baum verbarg.
Mit gesenktem Blick behielt Karla den Waldrand im Auge. Und schon sah sie einen zweiten Mann, der sich nur unzureichend hinter einem Baum verbarg. War es der Beckmann, der dort in dunklem Umhang stand, die Kapuze weit in die Stirn gezogen? Oder war es der Hettrich? Karla konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Nur eines stand für sie fest: dass an dieser Beerdigung mehr Menschen teilnahmen, als es auf den ersten Blick aussah.
Auf dem Rückweg von der Michelsmühle ins Dorf war Karla still. Sie dachte an den schwarzen Jo, an sein kantiges Gesicht. Wie gern hätte sie ihm die Sorgen, das Leid, daraus weggestreichelt. Aber er hatte ihren Händedruck nur kurz erwidert, hatte genickt und sich über die müden Augen gestrichen. Dann aber hatte er sie mit der Hand zu sich herangewunken, und Karla war ihm gefolgt. In die Scheune, in der vor kurzem noch die Särge gestanden hatten.
«Hier», hatte der schwarze Jo gesagt und ihr ein Paar Stiefel, wunderbar weich aus Ziegenleder und gut gewichst, in die Hand gedrückt. «Die sollten Euch passen.»
Karla hatte die Stiefel genommen und behutsam über das weiche Leder gestrichen. Jede Kleinigkeit hatte sie wahrgenommen. Wie sorgsam sie genäht waren, wie fest die Sohle saß. Und sie hatte begriffen. Ohne dass der schwarze Jo ein Wort sagen musste. «Sie sind von Eurem Bruder, nicht wahr?»
Der schwarze Jo nickte. «Ihr könnt sie haben, müsst nicht mehr in diesen Riesendingern stolpern, wenn Ihr zur Mühle kommt. Er … er braucht sie eh nicht mehr.»
«Ihr habt sie ihm gemacht?»
Wieder nickte der schwarze Jo.
Karla drückte die Stiefel an ihre Brust. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte ihr jemand ein so großes Geschenk gemacht. Es war gleichgültig, dass die Schuhe eigentlich für Jost bestimmt waren. Karla sah nur die Liebe, mit der sie gemacht waren, die Sorgfalt.
«Braucht Sofie sie nicht?», fragte sie, obgleich sie schon entschlossen war, die Schätze um keinen Preis der Welt wieder herzugeben.
«Sie hat größere Füße. Nehmt sie. Ich muss zurück zu den anderen.»
«Danke», sagte Karla, stellte sich vor den Michelsmüller und drückte ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange.
Und der schwarze Jo wich erschrocken zurück, tastete aber sogleich mit seinem Finger auf die Kussstelle und wagte ein winziges Lächeln. «Bringt sie her, wenn etwas daran kaputtgeht.»
Dann waren die Familie und die Knechte zurück ins Haus und zur Mühle gegangen, und Pater Fürchtegott und Karla hatten den Mühlenhof verlassen. Und kein Wort dabei gesprochen. Erst als sie die ersten Häuser erreicht hatten, brach Karla das Schweigen. «Was sagt Ihr, Pater Fürchtegott?»
Der hob die Schultern. «Was soll ich sagen? Und wozu eigentlich? Zu den neuen Stiefeln?»
«Zu den Todesfällen in der Mühle.»
Pater Fürchtegott blieb stehen und blickte zurück. «Ich weiß es nicht, Karla. Immer wieder und überall passiert es, dass ganze Familien ausgelöscht werden, und nur Gott allein weiß, warum das geschieht.»
«Meint Ihr, die anderen müssen um ihr Leben fürchten?»
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