Teuflisch erwacht
reichte bis über die Taille und ihre grauen Augen hatte bereits der Star befallen.
Sie nahm die Brille von der Nase. »Du hast also einige Fragen, die dir auf der Seele brennen, und suchst nach Antworten.«
»Suchen ist wohl zu viel des Guten. Ich befürchte, ich will die Antworten gar nicht hören.«
Charlotte lachte. »Es ist ein schweres Erbe, das dir die liebe Eva hinterlassen hat, nicht wahr?«
Sie nickte. Wie gut kannte sie Eva?
»Wie bist du auf die Idee gekommen, dass ich dir helfen könnte?«
»Meine Tante. Sie hat mich heimgesucht und gesagt, dass Sie vielleicht wichtige Informationen haben. Ich weiß nicht, wie viel Sie wissen, aber …«
»Ich weiß alles und noch mehr«, fuhr Charlotte dazwischen.
Himmel, hoffentlich endete sie nicht auch eines Tages als ein altes, marodes Mysterium, das komische Andeutungen machte. »Dann kennen Sie die Prophezeiung über mich?«, fragte sie, bevor sie noch die Gedanken aussprach.
Charlotte trank von ihrem Tee und schien eine Weile zu überlegen. Sie verzog das Gesicht. »Ich habe sie nicht gesprochen, aber meine Freundin Kleo. Wir haben uns darüber unterhalten und ausgetauscht.«
»Eva glaubt, dass wir sie nicht ganz kennen. Ist das möglich?«
In ihren Augen blitzte es neckisch auf. »Die liebe Kleo hat wohl die Hälfte mit ins Grab genommen.«
Anna stöhnte auf. Also stimmte es. Es gab einen zweiten Teil. »Bei allem Respekt«, begann sie, »aber ich bin zu müde, um weiter zu spekulieren. Können Sie mir helfen oder nicht?«
Charlotte erhob sich vom Stuhl, tastete sich um den Tisch herum und blieb hinter ihr stehen. Was tat sie da?
Die alte Frau beantwortete die unausgesprochene Frage, indem sie Annas Haare hinters Ohr strich und sich leicht zu ihr herunterbeugte.
Ein Schauder sauste ihr Rückgrat hinunter. Wie gruselig.
»Des Arztes Tochter, jung und rein, wird siegen über Angst und Schein. Anna mit dem blonden Haar, beschwört die Geister, macht sich rar. Die Kraft der Gabe, so steht es geschrieben, wird in der Nekromantie liegen.« Sie machte eine Pause und senkte die Stimme. »Der Hexe Erbin eilt herbei, nun gebührt ihr die Zauberei. Wo alt versagte, jung wird’s richten, denn der Himmel nimmt sie in die Pflichten. Unheil gilt es abzuwehren, junge Magier zu bekehren. Die Arzttochter nur dann gewinnt, wenn sie sich auf ihr Herz besinnt.«
Die knisternden Worte hingen in der Küche und zauberten Anna trotz der überhitzten Luft eine Gänsehaut über die Arme.
Charlotte ließ von ihr ab, setzte sich zurück und strahlte sie an.
»So lautet die Prophezeiung? Macht sie das nun komplett?«
Die alte Dame nickte. »Ja, das ist die ganze Prophezeiung. Es gibt keine weitere Strophe. Kleo hat sie mir anvertraut und nur mir.«
Plötzlich sah sie mächtig stolz aus.
»Warum hat sie das getan? Warum ließ sie uns alle im Dunklen tappen?« Das ergab doch keinen Sinn. Wollte sie die Worte vor dem Beirat verbergen?
»Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, liebe Anna, die stärker sind als der Wunsch, das Richtige zu tun. Dein Ding sitzt wohl gerade vor meiner Türe. Kleo wollte sich rächen. Verstehst du die Prophezeiung?«
Gute Frage. Diese Teile ließen sich wohl immer mehrfach deuten. Sie schüttelte den Kopf.
»Wir haben auch gerätselt und sind zu dem Entschluss gekommen, dass es nur Folgendes bedeuten kann. Du bist dazu auserkoren, die Magier aufzuhalten. Aber aufzuhalten heißt nicht, auszulöschen. Das magische Blut muss erhalten bleiben. Die Prophezeiung besagt, dass du die junge Generation der Halbblütigen bekehren musst. Für die Alten wird es zu spät sein. Jonathan Fingerless wird sich nicht ins Gewissen reden lassen, aber bei seinen Söhnen ist noch nicht alles verloren. Das gilt wahrscheinlich auch für die Brut der del Rossis.«
»Ich soll ihre Kinder verschonen? Warum sagt das doofe Teil denn kein Wort darüber, wie ich es anstellen muss? Ich habe keine Ahnung, wie ich einen Jonathan Fingerless aufhalten kann.«
»Ich leider auch nicht. Die Prophezeiung sagt nur, dass du auf dein Herz hören musst, um zu gewinnen.«
Jo, das sprach ja auch so eindeutig klare Silben. »Aber ich kann gewinnen?«
Charlotte schlug die Stirn in Falten. »Weißt du, Prophezeiungen sind auch bloß gut gemeinte Ratschläge vom lieben Gott. Man kann sie erfüllen, aber es liegt wohl immer in den Händen derer, von denen sie handeln.«
Super, und sie sah sich die ganze Zeit in der Pflicht? Der liebe Gott konnte sich seine gut gemeinten Ratschläge
Weitere Kostenlose Bücher