Teuflische List
Gefühl auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Die Polizei hatte sie rasch verhört – mit der Absicht, sie zu einer Zeugin der Anklage zu machen –, hatte sie dann aber wie eine heiße Kartoffel fallen lassen, als sie Abigails Geschichte nicht nur bestätigt, sondern dramatisch verstärkt hatte. Quinlan hatte kurz befürchtet, dass die Polizei glauben könnte, sie hätte sich mit Abigail zu der Tat verschworen, zumal sie den Beamten von ihrem Verdacht erzählt hatte, Silas habe auch ihren Mann, Ralph Weston, ermordet. Doch zum Glück hatten sie keinen derartigen Verdacht geäußert, und der Anwalt war mehr als erleichtert gewesen.
Trotzdem sah Quinlan deutlich, wie sehr sie ihren Bruder geliebt hatte, auch wenn Jules sich tapfer bemühte, sich den schrecklichen Dingen zu stellen, die Silas Graves getan hatte. Und Trauer, das hatte ihn die Erfahrung gelehrt, konnte einen Fall rasch verkomplizieren.
»Tut mir Leid«, sagte Jules und riss sich zusammen.
»Sie dürfen durchaus trauern«, sagte Quinlan.
Jules nickte und brachte sogar ein Lächeln zustande. »Also, was können wir für Abigail tun?«
»Machen Sie einfach so weiter wie bisher«, antwortete er. »Seien Sie weiterhin Abigails beste Freundin, und lassen Sie sie Zeit mit Ihrem Sohn verbringen. Ich weiß, dass sie Olli sehr gerne hat.«
»Das ist nicht annähernd genug.« In einer hilflosen Geste fuhr Jules sich mit der Hand durchs Haar. »Sie ist völlig durcheinander, Philip. Gestern habe ich ihr gegenüber eine Hornhauttransplantation erwähnt, doch Abigail wollte nicht einmal mit mir darüber reden, und ich bin sicher, dass sie zu dem Schluss gekommen ist, sie hätte das nicht verdient.« Sie atmete tief durch. »Und dann ist da ihre Schwangerschaft.«
Quinlan atmete tief durch. »Achtet sie nicht auf sich?«
»Michael Moran sagt, dass sie wieder isst. Aber sie ist durcheinander, meint er, und braucht professionelle Hilfe.«
»Das ist bereits organisiert«, sagte der Anwalt. »Psychiater und Psychologe.«
»Aber die helfen doch nur mit dem Fall, oder?«, hakte Jules nach. »Michael und ich sind der Meinung, dass Abigail langfristige Hilfe benötigt, wenn sie irgendwann gesund werden soll.«
»Da kann ich nur zustimmen«, sagte Quinlan.
»Aber sie sollte nicht zu allzu vielen unterschiedlichen Leuten gehen«, fuhr Jules fort. »Vielleicht könnten Sie ja mal mit den Experten reden und nachhören, was die vorschlagen.« Sie hielt kurz inne. »Ich bezahle es selbstverständlich.«
Philip Quinlan lächelte sie an. »Ich werde mit den Leuten sprechen«, sagte er.
Von Anfang an war ihm klar gewesen, dass Abigails Geisteszustand vermutlich der größte Verbündete der Anklage sein würde.
»Ich hege kaum einen Zweifel«, sagte er zu ihr, »dass wir eine gute Chance haben, die Geschworenen davon zu überzeugen, dass es sich um Notwehr gehandelt hat.«
»Wie wollen Sie das denn beweisen?«, erkundigte sich Abigail.
»Indem ich so viele andere Beweise wie möglich ausschließe«, antwortete Quinlan. »Außerdem müssen nicht wir etwas beweisen, sondern der Staatsanwalt.« Er hielt kurz inne. »Das Gleiche gilt für Affekt oder andere mildernde Umstände, die wir geltend machen wollen. Die Beweislast liegt bei der Anklage.«
Abigail seufzte. »Wenigstens versuchen Sie nicht, so zu tun, als wäre ich unschuldig, so wie Jules es macht. Das bin ich nämlich offensichtlich nicht. Ich habe Silas tatsächlich getötet.«
»Ich würde es vorziehen«, erklärte Quinlan auf seine sanfte Art, »wenn Sie das nicht dauernd sagen würden, Abigail.«
Die alte Erinnerung an Francesca, die sterbend in den Krankenwagen geschoben wurde, kehrte wieder zurück.
Du darfst das nicht sagen.
Genug Lügen.
»Aber es ist die Wahrheit«, sagte sie. »Ich bin eine Mörderin.«
»Wenn es so weit ist, werden Sie ›nicht schuldig‹ plädieren und sich auf Notwehr berufen.« Quinlan blieb standhaft. »Sie werden erklären, dass Sie angemessene Gewalt eingesetzt haben, um sich zu verteidigen.«
»Aber meine Gewalt hat ihn getötet«, sagte Abigail.
»In Notwehr.« Quinlan ließ nicht locker. »Ich kann das nicht oft genug betonen, Abigail. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass Sie Ihren Mann in Notwehr getötet haben.« Er wartete auf eine Antwort. »Akzeptieren Sie das?«
Abigail erinnerte sich an Jules’ Schmerzensschrei und Ollis Heulen und an ihre eigene panische Angst.
»Ja«, bestätigte sie leise. »Ja.«
»Dann vergessen Sie es bitte nicht«, sagte
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