Teuflische List
Abigail.
»Nicht wir «, verbesserte Jules sie. »Verstehst du das?«
»Natürlich verstehe ich das«, sagte Abigail.
Ihre Antwort schien von Herzen zu kommen, doch Jules wusste, dass es nicht ganz der Wahrheit entsprach, und das stimmte sie traurig, denn Abigail gab sich zumindest einen Teil der Schuld an Ralphs Tod. Jules hatte ihr erklärt, dass es sinnlos sei, so zu denken; aber es war offensichtlich für Jules, dass Abigail sich nicht überzeugen ließ. Vermutlich glaubte sie, dass Jules auszog, weil sie insgeheim ihr, Abigail, die Schuld an der Tragödie gab.
Dabei sah die Wahrheit ganz anders aus.
Die Wahrheit war, dass Silas sie seit ihrer Rückkehr ins Haus in Muswell Hill mehrmals gebeten hatte, in sein und Abigails Zimmer zu kommen, um das Bett mit ihnen zu teilen.
»Das wäre wie in alten Zeiten«, hatte er gesagt.
»In den alten Zeiten warst du aber noch nicht verheiratet«, hatte Jules erschrocken entgegnet.
»Abigail wird das bestimmt nichts ausmachen«, hatte er ihr versichert.
»Ich glaub schon, dass es Abigail etwas ausmachen würde.« Jules, die mehr entsetzt als erschrocken war, hatte versucht, ihrer Antwort einen gelassenen Beiklang zu geben. »Du lieber Himmel, Silas, was für komische Ideen du hast.«
»Tut mir Leid«, hatte er gesagt.
Jules hörte seinen kühlen Unterton und schüttelte den Kopf, denn Silas’ verletzten Gefühlen galt im Augenblick nicht ihre Hauptsorge. Sie würde fortan ohne Ralph leben müssen, würde sich durch jeden Tag und jede Nacht kämpfen und versuchen müssen, beim Gedanken an seinen einsamen und schrecklichen Tod nicht den Verstand zu verlieren – nicht dass es sie irgendwie getröstethätte, sich an all das Gute zu erinnern, das vorher gewesen war, an die Wärme, die Kameradschaft, den Sex und die Zärtlichkeit. Nicht im Mindesten. Das waren die Probleme, mit denen sie im Augenblick zu kämpfen hatte, nicht die abartigen Launen ihres Bruders.
»Ich biete dir doch nur Liebe an«, sagte Silas, »Liebe und Wärme.«
»Aber das ist nicht normal«, erwiderte Jules. »Verstehst du das denn nicht?«
»Nein, das kann ich nicht verstehen«, antwortete er. »Die beiden wichtigsten Frauen in meinem Leben im Bett zu haben, mich Trost suchend mit ihnen zusammenzukuscheln … Das scheint mir das Normalste der Welt zu sein.« Er hielt kurz inne. »Mehr könnte ich mir nicht wünschen, Jules.«
Das war der Augenblick, da Jules klar wurde, dass sie gehen musste.
Tatsächlich wäre sie vermutlich noch viel weiter weggezogen, wäre da nicht ihr Laden gewesen, und den brauchte sie jetzt mehr denn je – erstens als Ablenkung und zweitens, weil sie etwas Beständiges, Vertrautes benötigte.
So blieb sie in der Nähe.
Sie wartete bis Ende August, als sie sich in ihrer neuen Wohnung eingerichtet hatte: sie und Asali, die jeden Abend auf dem Läufer darauf wartete, dass Jules sie ins Bett hob, wo sie es sich auf der Decke bequem machte und mit warmen, scharfen kleinen Augen beobachtete, wie Jules das Licht ausschaltete. Erst dann, als sie sich wirklich wie zu Hause fühlte, lud sie Silas und Abigail zum Abendessen ein, um ihnen die Neuigkeit zu verkünden.
»Das ist ja wunderbar!« Abigail sprang auf und umarmte Jules. »Ich kann’s nicht glauben.«
»Warum hast du mir nichts davon erzählt?« Silas hatte sich nicht von seinem Stuhl gerührt.
»Ich erzähle es dir doch gerade«, erwiderte Jules.
»Vorher, meine ich.«
Abigail schaute ihren Mann an, erstaunt ob seiner Kälte.
»Du bist mindestens schon vier Monate fort«, sagte Silas.
»Spot an«, sagte Jules ruhig, aber mit roten Wangen. »Ich habe nichts gesagt, weil ich mir über meine Gefühle selbst noch nicht im Klaren war. Außerdem wollte ich ein wenig Zeit für mich damit haben.« Die Röte in ihren Wangen nahm zu, und sie lächelte. »Mit ihm allein.«
»Ein Junge?« Abigail vergaß Silas’ seltsames Verhalten. »Oh, Jules. Ich freue mich ja so für dich.«
»Silas?« Jules blickte zu ihrem Bruder. »Freust du dich denn nicht auch?«
Er wartete noch einen Augenblick, stand dann auf und streckte zur Antwort die Arme aus. Seine Schwester erhob sich ebenfalls, ließ sich von seinen Armen umfangen und fing an zu weinen.
»Es tut mir Leid«, sagte Silas. »Ich liebe dich, Jules.«
»Ich liebe dich auch«, sagte sie mit gedämpfter Stimme an seiner Schulter.
Abigail stand ein wenig abseits, erleichtert und froh für sie beide.
»Du wirst ein wunderbarer Onkel«, sagte Jules leise.
Und ein
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