THARKARÚN – Krieger der Nacht
könnten die Dinge vielleicht ein wenig anders liegen.« In seinen Raubkatzenaugen lag ein schon fast gieriger Ausdruck. »Wenn wir seine Schützlinge, seine Diener, seine abgerichteten Bestien oder wie immer Ihr sie nennen wollt, angreifen und den Überraschungseffekt nutzen, könnte er sich vielleicht entschließen, einzugreifen und die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Und das wäre für mich eine Gelegenheit, mehr über ihn zu erfahren.«
Beide schwiegen wieder. Die Dunkelheit über der Großen
Mauer in der Ebene war jetzt vollkommen. Wachen liefen auf den Umgängen entlang, entzündeten Fackeln und Lampen und grüßten leise in verschiedenen Sprachen. Der Wind spielte in Amorannon Asduvarluns Haaren, aber er war nicht kräftig genug, um seinen Umhang hochzuwirbeln. Wer weiß, ob er auch bis ins Elbenreich zu Adilean dringen würde. Wie es wohl seiner Verlobten ging? Ob sein Kind schon geboren war?
»Wir müssen es tun«, beschloss Shannon und riss ihn aus seinen in diesem Moment unverzeihlichen persönlichen Gedanken.
»Ihr setzt das Leben vieler aufs Spiel, ehrwürdiger Shannon, nur um Euren Wissensdurst zu befriedigen«, warf der General ein. Vorher hatte er tief Luft geholt, was nur zeigte, wie anstrengend die letzten Tage und Nächte gewesen waren. »Wenn wir die Gremlins angreifen, müssen wir mit einer großen Zahl von Toten rechnen. Lohnt es sich wirklich, sie zu opfern, nur damit Ihr etwas über diesen geheimnisvollen Fremden erfahrt?«
Diesmal sah man nicht nur die kaum wahrnehmbare Andeutung eines Lächelns auf Shannons Gesicht, ganz langsam breitete sich auf seinen schmalen Lippen ein deutliches Lächeln aus, als er zu Asduvarlun hinüberschaute: »Ich könnte Euch jetzt sagen, dass ich dann, wenn ich etwas über Tharkarún erfahren habe, vielleicht besser erkennen könnte, ob und wie man ihn vernichten kann. Aber dieses eine Mal will ich offen zu Euch sprechen: Mein einziges Ziel ist größeres Wissen. Ich will erfahren, wie er zu dieser Macht gekommen ist und ob andere es ihm vielleicht gleichtun könnten. Ich will wissen, wozu er fähig ist und wie weit man ihn aus der Reserve locken kann. Ich muss erfahren, ob er von einem der acht Völker abstammt, und wenn ja, von welchem. Muss einfach wissen, was er ist und wie er dazu geworden ist!« Zum ersten Mal, seit Asduvarlun ihn kannte, schien Lay Shannon die Kontrolle über sich zu verlieren. Aber er fing sich sofort wieder.
»Versucht zu verstehen, General«, sagte er schließlich leise. »Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, all das zu erfahren, was
ein Sterblicher je kennenlernen kann, und daraus meine Stärke zu entwickeln. Jetzt stehe ich vor etwas, das ich nicht begreife, und ich würde alles dafür opfern, um mehr darüber zu erfahren.«
Asduvarlun neigte verständnisvoll den Kopf, als wolle er sagen, dass er dieses Gefühl, dieses Verlangen nachvollziehen könne. »So geht es uns allen. Jeder von uns hat etwas, für das wir alles opfern würden. Für mich ist das die Treue zu meinem König, dem ich versprochen habe zu dienen. Für Euch ist es eben diese Wissensgier. Wenn es so wichtig für Euch ist, ich werde Euch bestimmt nicht dafür tadeln. Aber ehe wir einen so bedeutenden Schritt tun, muss ich nachdenken. Es geht ja nicht nur um mein eigenes Leben.«
Lay Shannon sagte nichts weiter. Er schlug sich die Kapuze über den Kopf und zog sie sich tief über die Augen, dann packte er mit einer Hand fest seinen Stab. »Ihr seid ein guter Kommandant«, sagte er, »aber ich frage mich, ob Ihr jemals glücklich sein werdet, wenn Ihr immer so anständig seid. Auch wenn das letzten Endes wohl nicht wichtig ist.«
Er wandte Asduvarlun den Rücken zu und lief unter den nachdenklichen Blicken des Generals die Brustwehr entlang. Asduvarlun sah, wie er kurz anhielt, um mit einem seiner Ordensbrüder etwas zu besprechen, und dann wieder weiterging.
Vielleicht hatte das Oberhaupt der Schwarzen Hexer recht. Aber er selbst, Amorannon Asduvarlun, war mehr denn je überzeugt, das Richtige zu tun, und so schnell konnte man ihn nicht von seinen Grundsätzen abbringen. Ein Überraschungsangriff hatte Vor- und Nachteile und er würde sich deswegen mit Huninn beraten: Der Ombrier war klug und ein guter Stratege. Aber das Kommando war ihm anvertraut worden und die Verantwortung lag letzten Endes in seinen Händen. Doch das bekümmerte ihn nicht, schließlich war er es gewohnt.
Er wandte sich ab von Brüstung und Wald und machte sich auf den Weg zu
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