The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Feind. Ihre Haut spannte sich wie eine brüchige Farbschicht über den Knochen, und ihre gespitzten Lippen waren leichenblass.
»Du bist umzingelt, Orakel.« Situla ging langsam auf sie zu. »Ergib dich.«
»Nenn mich nicht ›Orakel‹, du Kreatur.« Abwehrend hob Antoinette die Hand. »Bleib stehen, dann wirst du herausfinden, was ich bin.«
Die Luft wurde eiskalt.
Situla beeindruckte diese Drohung kein bisschen, von einem einfachen Menschen hatte sie nichts zu befürchten. Gelassen ging sie auf Antoinette zu. Doch bevor sie etwas unternehmen konnte, wurde sie in die Luft gehoben und zurückgeschleudert. Fast wäre sie von der Brücke gestürzt. Ich zuckte erschrocken zusammen. Ein Geist, ein Ausbrecher. In dem Versuch, ihn zu identifizieren, tauchte ich in den Æther ein. Er war so etwas wie ein Schutzengel, aber ein sehr alter und mächtiger.
Ein Erzengel. Also ein Engel, der seit Generationen einer Familie die Treue hielt, selbst noch nachdem die Person, die er gerettet hatte, gestorben war. Die waren extrem schwer auszutreiben. Nicht einmal die Threnodie würde ihn lange zurückhalten.
Situla gewann ihr Gleichgewicht zurück. »Halt still.« Wieder trat sie einen Schritt vor. »Lass uns herausfinden, was du bist.«
Sie griff sich einen vorbeiziehenden Geist, dann noch einen und noch einen, bis sie eine ganze Gruppe zusammen hatte. Antoinette hielt ihre Hand ausgestreckt, aber ihr Gesicht verzerrte sich, als Situla anfing, sich von ihr zu nähren. Ihre Augen nahmen die Farbe von Zinn an, dann wurden sie fast rot. Einen Moment lang glaubte ich, Antoinette würde zusammenbrechen. Aus ihrem linken Auge quoll Blut. Dann riss sie den Arm nach vorne, und der Erzengel schoss auf Situla zu. Die gebundenen Geister drängten sich ihm entgegen. Als der Æther sich explosionsartig öffnete, rannte ich los.
Die meisten Wachen verfügten über die Zweitsicht. Die Kollision der Geister würde sie ablenken, dann würden sie mich nicht bemerken. Konnten sie gar nicht. Ich musste einfach zurück nach Seven Dials. Also sprintete ich Richtung U-B ahnhof I-1.
Die freigesetzte Energie ließ die Brücke unter meinen Füßen beben. Ich lief weiter. Jetzt konnte ich auf der anderen Straßenseite schon das U-B ahn-Schild sehen. Hastig streifte ich Jacke und Schutzweste ab. Dadurch wurde ich noch schneller, und sobald ich diese verdammte Maske loswurde, würde ich auch nicht mehr aussehen wie eine Rotjacke. Dann war ich nur noch ein Mädchen in einem roten Hemd. Mit einem schnellen Blick prüfte ich die Häuserfassaden und suchte nach Klettermöglichkeiten. Falls ich es nicht in den Bahnhof schaffte, würde ich mich nach oben orientieren müssen. Wenn ich es erst einmal auf ein Dach geschafft hatte, war ich in Sicherheit.
Plötzlich drängte sich etwas anderes in mein Bewusstsein.
Schmerz.
Ich blieb nicht stehen, aber meine Schritte wurden schleppend. Eine schwere Verletzung konnte es nicht sein. Der Erzengel war nicht einmal in meine Nähe gekommen. Seine Sorge galt allein Situla, sie stellte die Bedrohung dar. Wahrscheinlich hatte ich mir einen Muskel gezerrt.
Dann breitete sich unterhalb der Rippen feuchte Wärme aus. Als ich hinsah, hatte mein Hemd einen anderen Rotton angenommen, und knapp über der Hüfte hatte es ein kleines, rundes Loch.
Sie hatten auf mich geschossen. Genau wie damals auf die irischen Studenten.
Ich musste weiterlaufen. Humpelnd schleppte ich mich vorwärts, immer weiter auf die Querstraße zu, wo der Verkehr vom Themseufer heraufströmte. Komm schon, Paige, komm schon . Lauf . Nick würde mich wieder zusammenflicken. Ich musste es nur bis nach Seven Dials schaffen. Jetzt sah ich die U-B ahn-Station. Wieder fiel ein Schuss. Daneben. Ich musste mich außer Reichweite bringen. Mühsam rang ich mir einen Schritt nach dem nächsten ab, aber der Schmerz wurde immer stärker, und ich konnte das rechte Bein nicht mehr belasten. Aus dem taumelnden Sprint wurde ein humpelndes Kriechen. Vor dem Bahnhof standen einige Säulen. Wenn ich es bis dorthin schaffte, konnte ich die Blutung stillen und verschwinden.
Ich rettete mich hinter einen Bus und nutzte ihn als Deckung, bis ich die erste Säule auf der anderen Straßenseite erreichte. Sämtliche Kräfte verließen mich. Ich wollte ja weiter, aber ein stechender Schmerz schoss durch meine Hüfte. Die Knie brachen unter mir weg.
Wie schnell der Tod sich doch anschlich. Als hätte er seit Jahren darauf gewartet. Die stoffliche Welt verschwamm vor meinen Augen.
Weitere Kostenlose Bücher