The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
bereit, Sehern behilflich zu sein.«
»Sie reden über echte, tote Menschen ?«, hakte ich nach. »Und die können Sie tanzen lassen, wenn Sie die richtigen Fäden ziehen?«
»Korrekt.«
»Aber warum sollte irgendeiner von ihnen das wollen?«
»Weil sie dadurch in der Nähe ihrer Lieben bleiben können.« Er rümpfte die Nase, als wäre ihm das völlig unverständlich. »Oder bei den Menschen, die sie heimsuchen wollen. Sie opfern ihren freien Willen und bekommen dafür eine Art Unsterblichkeit.«
Nachdenklich kaute ich auf meinem Salat herum. Er schmeckte wie nasse Watte.
»Natürlich sind sie nicht von Anfang an Geister.« Jaxon tippte mir auf den Handrücken. »Sie haben einen fleischlichen Körper, sie können sich in der physischen Welt bewegen. Aber sie verfügen auch über eine persönliche Verbindung zum Æther. Wir bezeichnen das als Traumlandschaft: die Gestalt des menschlichen Bewusstseins.«
»Moment, warten Sie. Sie sagen ständig ›wir‹. Wer genau ist dieses ›wir‹? Die Seher?«
»Ja, eine sehr lebhafte Gemeinschaft.« Nick schenkte mir wieder dieses warme Lächeln. »Aber auch eine sehr geheime.«
»Man kann Seher anhand ihrer Aura identifizieren. So hat Nick Sie auch erkannt«, erklärte Jaxon. Mein zunehmendes Interesse schien ihn anzuspornen. »Jeder Mensch hat eine Traumlandschaft. Eine Illusion von Sicherheit, sozusagen ein locus amoenus , wenn Sie verstehen.« Ganz sicher nicht. »Die von Sehern sind bunt, alle anderen haben Ausgaben in Schwarz-Weiß. In Träumen sieht man diese Traumlandschaft, was logischerweise bedeutet, dass Amaurotiker zweifarbig träumen. Seher hingegen … «
»… träumen in Farbe?«
»Seher träumen überhaupt nicht, meine Liebe. Zumindest nicht so wie Amaurotiker. Dieses sinnlose Vernügen bleibt allein ihnen vorbehalten. Aber die Farben der Traumlandschaft eines Sehers durchdringen auch seine körperliche Gestalt und bilden so eine Aura. Menschen, die demselben Typus von Seher angehören, haben meistens auch sehr ähnlich aussehende Auren. Sie werden lernen, sie entsprechend einzuordnen.«
»Kann ich denn Auren sehen?«
Die beiden Männer wechselten einen schnellen Blick. Dann hob Nick seine Finger an die Augen und streifte zwei hauchdünne Linsen ab. Mir lief es eiskalt den Rücken runter.
»Sieh mir in die Augen, Paige.«
Das musste er mir nicht zweimal sagen. An diese Augen erinnerte ich mich so deutlich, als wäre es erst gestern gewesen: an diesen außergewöhnlichen Grünton und die feinen Linien, die sich über die Iris zogen. Ein Detail war mir damals allerdings nicht aufgefallen, die kleine Missbildung an seiner rechten Pupille. Sie hatte die Form eines Schlüssellochs.
»Manche Seher haben eine Art drittes Auge.« Er lehnte sich zurück. »Sie können nicht nur Auren sehen, sondern auch Wanderer. Man kann über teilweise Sicht verfügen, so wie ich – mit nur einem Kolobom – , oder über vollständige, so wie Jax.«
Jaxon riss die Augen weit auf, damit ich es sehen konnte. Bei ihm war der Defekt an beiden Augen zu erkennen.
»So etwas habe ich nicht«, stellte ich fest. »Dann bin ich also eine Seherin, habe aber kein drittes Auge?«
»Das Fehlen der Zweitsicht ist in den höheren Kasten weit verbreitet. Bei Ihrer Gabe ist es nicht erforderlich, dass Sie die Geister sehen.« Jaxon musterte mich anerkennend. »Sie können Auren und Wanderer spüren, nehmen sie aber nicht mit den Augen wahr.«
»Was kein Nachteil sein muss.« Nick tätschelte meine Hand. »Ohne visuelle Unterstützung wird dein sechster Sinn noch feiner abgestimmt sein.«
Obwohl es in dem Restaurant angenehm warm war, breitete sich eisige Kälte in meinem Körper aus. Ich sah zwischen den beiden Männern hin und her, studierte die so unterschiedlichen Gesichter. »Was für eine Art von Seher bin ich denn?«
»Das wollen wir herausfinden. Im Laufe der Jahre habe ich sieben Seherkasten klassifiziert. Und ich glaube, Sie, meine Liebe, gehören der allerhöchsten Kaste an, womit Sie ein in der modernen Welt extrem selten anzutreffender Seher wären. Falls ich recht behalte, möchte ich, dass Sie diesen Arbeitsvertrag unterschreiben.« Er griff nach seiner teuren ledernen Umhängetasche und holte eine Mappe daraus hervor. Er sah mich unverwandt an: »Auf diesen Scheck könnte ich jede Menge Ziffern schreiben, Paige. Was wäre notwendig, damit Sie bei mir bleiben?«
Mein Herz raste. »Zuallererst mal ein Drink.«
Jaxon lehnte sich zurück.
»Bestell der jungen Dame
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