The Cutting
ich. Rufen Sie mich morgen früh zu Hause an. Die Nummer haben Sie ja.«
McCabe wusste, dass Shockley bei bedeutenden Fällen die Außendarstellung gerne selbst übernahm, und zwar vollständig. Er war überzeugt, darin besser zu sein als alle anderen im Kommissariat, und wahrscheinlich lag er damit sogar richtig. Shockley war ein leidenschaftlicher Politiker, und McCabe wusste, dass das auch in einer Kleinstadt wie Portland durchaus von Vorteil sein konnte. Trotzdem fand er es erstaunlich, wie gerne der Chief sich selbst in der Glotze sah.
Auf McCabes Schreibtisch lagen wie üblich alle möglichen Papiere durcheinander. Keines davon war dringend oder hatte irgendetwas mit dem Fall Dubois zu tun. Er verstaute den ganzen Haufen in der linken Schublade seines Schreibtischs. Die wichtigen Sachen, die Akten der momentan bearbeiteten Fälle, lagen bereits sicher verwahrt in der rechten Schublade, auf einem Paar von Caseys Skifäustlingen. Die Unterlagen zum Fall Dubois waren nicht darunter.
Er holte Katie Dubois’ Vermisstenakte hervor und legte sie auf den Schreibtisch. Er hatte sie zwar schon einmal gelesen, aber jetzt, wo er wusste, dass das Mädchen ermordet worden war, wollte er sie noch einmal besonders gründlich durchgehen. Sein Blick fiel auf die siebenjährige Casey, die ihn aus einem metallumrandeten Bilderrahmen verschmitzt anstrahlte. Die einfache Tatsache, dass Casey jetzt nur wenige Jahre jünger war als das Mädchen von der Müllkippe, ließ diesen Fall irgendwie persönlicher werden. Nicht bedeutender. Aber persönlicher.
McCabe klappte die Akte auf. Als Erstes fielen ihm drei Digitalfotos von Katie in die Hand. Das erste war ein Familienfoto, aufgenommen an ihrem letzten Geburtstag. Er überprüfte das Geburtsdatum auf dem Datenblatt mit den persönlichen Angaben. 14. Juli, also vor zwei Monaten. Auf dem Bild sah Katie noch hübscher aus, als er erwartet hatte. Sie saß vor einer großen weißen Torte, in der zwei Kerzen in Form einer Eins und einer Sechs steckten. Süße sechzehn. Die Lippen hatte sie extra für die Kamera übertrieben gespitzt: Gleich würde sie die Kerzen ausblasen. Was hatte sie sich wohl dabei gewünscht? Bestimmt nicht das, was sie bekommen hatte.
Das zweite Bild hatte überall in der Stadt ausgehangen und an die Medien weitergegeben worden. Es war ein ziemlich steif wirkendes Porträt, wie von einem professionellen Fotografen. Auf dem dritten Bild war Katie im Fußballdress der Portland Highschool auf dem Spielfeld zu sehen, zusammen mit ihrer Mutter. Wahrscheinlich direkt nach einem Spiel. Im Hintergrund waren andere Spielerinnen und Zuschauer zu erkennen. Mutter und Tochter lächelten ein wenig gezwungen, als hätte sie gerade jemand aufgefordert, »Cheese« zu sagen. Katies Mutter, Joanne Ceglia, wirkte jünger, als McCabe erwartet hatte, wahrscheinlich noch keine vierzig. Rötlich-blonde Haare. Sommersprossen. Er suchte in der Akte nach ihrem Mädchennamen. O’Leary. Das hatte er sich gedacht. Wer McCabe heißt, erkennt eine O’Leary auf den ersten Blick. Sie besaß das gleiche rundliche Gesicht, denselben Mund wie Katie. Auch die Augen bargen eine gewisse Ähnlichkeit, allerdings war von der lebendigen, frischen Ausstrahlung der Tochter bei der Mutter nichts mehr zu sehen.
Er legte die Fotos in die Akte zurück und überflog die Zusammenfassung der Vermisstenanzeige. Die hatte er schon einmal gelesen, und es stach nicht wirklich etwas daraus hervor. Katie war Joanne Ceglias einziges Kind. Katies Vater, Louis Dubois, war Berufsfischer gewesen und vor zehn Jahren ertrunken. Der Kutter, auf dem er gearbeitet hatte, war vor der Georges Bank in einen Eissturm geraten und gekentert. Die ganze Besatzung kam dabei ums Leben, und Dubois’ Leiche wurde nie gefunden. Zwei Jahre danach, 1997, hatte Joanne Frank Ceglia geheiratet. Er war in der Gewerkschaft und verdiente gutes Geld als Rohrschlosser, wahrscheinlich vierzig Dollar pro Stunde oder mehr. Das einzig Auffällige an ihm war das Führungszeugnis, das Tom Tasco angefordert hatte. Daraus ging hervor, dass Ceglia in seiner Jugend eine kurze Haftstrafe wegen Drogenhandels mit geringen Mengen abgesessen hatte, gefolgt von einer mehrjährigen Bewährungsfrist. Er war aber seither nie mehr aufgefallen.
McCabe überflog die Zusammenfassungen der Befragungen, die Tasco und Fraser durchgeführt hatten, sowie ihre Berichte. Die beiden hatten ganze Arbeit geleistet. Sie hatten Massen von Menschen befragt. Sie hatten Katies
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