The Cutting
gerne die Lebensläufe.«
»Tut mir leid. Die Namen gebe ich Ihnen, aber mehr nicht. Keine Lebensläufe oder weitere persönliche Informationen. Da gibt es strenge Datenschutzbestimmungen. Wenn Sie mehr wissen wollen, dann müssen Sie mit jedem einzelnen Mitarbeiter persönlich sprechen.«
Während Spencers Worten blitzte vor McCabes innerem Auge kurz ein Bild von Lucinda Cassidy auf, festgebunden auf einem Operationstisch, während Philip Spencer sich über sie beugte, bereit, den ersten Schnitt zu setzen. »Herr Dr. Spencer, wir stehen unter Zeitdruck«, sagte er. »Je länger wir mit Ihren Mitarbeitern reden, desto kälter wird die Spur. Ihre Mithilfe würde uns eine Menge Zeit sparen.«
»Ich bedaure. Nein.«
»Ich kann mir auch eine richterliche Anordnung besorgen, wenn es nötig ist.« Ob der Doktor wusste, dass er bluffte? Es würde schwierig werden, einen Richter dazu zu bewegen, die Durchleuchtung des persönlichen Hintergrundes von über hundert angesehenen Ärzten anzuordnen.
»Dann müssen Sie das eben tun. Von mir bekommen Sie die Erlaubnis jedenfalls nicht. Sie können sich natürlich jederzeit an die Personalabteilung wenden, aber ich glaube kaum, dass Sie dort mehr Glück haben werden.«
McCabe dachte an die ermordete Elyse Andersen. »Ist irgendeiner Ihrer Chirurgen im Lauf der letzten Jahre vielleicht von Florida hierhergezogen? Aus Orlando womöglich?«
»Sie fangen an, mir auf die Nerven zu gehen, Detective.«
Spencer verlor allmählich die Geduld. McCabe beschloss, das Thema zumindest vorerst ruhen zu lassen und es mit einem anderen Ansatz zu probieren. Er schaute sich noch einmal das Bild vom Mount McKinley an und wunderte sich erneut über Spencers Gesichtsausdruck. Was steckte dahinter?
»Wie ich sehe, sind Sie Bergsteiger«, sagte er.
»Ich habe den einen oder anderen Gipfel bezwungen, ja. Den Mount McKinley, wie Sie sehen. Den Mount Logan in Kanada, El Pico de Orizaba in Mexiko und den Katahdin hier in Maine.«
War Spencer erleichtert über den Themenwechsel? McCabe war sich nicht sicher. »Diese Männer da, sind das Freunde von Ihnen?«
»Alte Freunde. Wir haben zusammen studiert und auch die Assistenzzeit gemeinsam verbracht. Alle bis auf einen in der Herzchirurgie, dann in der Transplantationschirurgie. Damals haben wir uns – in einem Anflug von Arroganz, nehme ich an – die Asklepios-Gruppe genannt.«
»Asklepios?«
»Ja. Nach dem griechischen Gott der Heilkunst. Asklepios war ein so hervorragender Arzt, dass er sogar Tote zum Leben erwecken konnte. Und genau so haben wir uns als Transplantationschirurgen auch gesehen. Auch wir konnten die Toten wieder ins Leben zurückholen.«
McCabe erinnerte sich an die Geschichte aus seiner Schulzeit in St. Barnabas. Anstatt sich über den Heiler zu freuen, war Zeus so wütend auf Asklepios geworden, weil dieser sich die Gabe erschlichen hatte, Menschen unsterblich zu machen, dass er ihn auf der Stelle tötete. Er durchbohrte ihn mit einem Blitz, wie eine Art Tony Soprano der Antike.
»Und Sie?«, erkundigte sich Spencer.
»Was ist mit mir?«
»Sind Sie auch Kletterer?«
McCabe dachte an seine Rutschpartie auf dem schlammigen Abhang an der Western Prom. »Nein, ich bin definitiv kein Kletterer«, sagte er. »Und bis jetzt hat es mich auch noch nie gereizt.«
»Vielleicht sollten Sie es sich mal überlegen.«
»Ich wüsste nicht, wieso.«
»Na ja, ich könnte ihnen jetzt eine Menge Zeug über gesundheitsfördernde Bewegung an der frischen Luft erzählen, aber ich finde, dass George Mallory die Frage nach dem Warum des Bergsteigens am schlüssigsten beantwortet hat. Mallory war ein britischer Bergsteiger, der 1924 versucht hat, den Everest zu besteigen. Er wollte der erste Mensch auf dem Gipfel sein. Als er gefragt wurde, wieso er diese Besteigung, die von den meisten als unmöglich und von manchen als reiner Selbstmord betrachtet wurde, so unbedingt wagen wollte, da sagte er: ›Weil er da ist.‹«
»Darum steigen Sie auf Berge? Weil sie da sind?«
»Das ist bei jedem ernsthaften Bergsteiger der Grund. Bergsteigen ist eine körperliche Herausforderung. Es kann gefährlich sein. Auf keinen Fall lässt es sich mit dem Begriff ›Spaß‹ im herkömmlichen Sinne umschreiben. Ich werde dabei gezwungen, weiter zu gehen, als ich mir jemals zugetraut hätte. Mich zu testen. Herauszufinden, wie gut ich bin. Für mich und für andere, die genauso empfinden, ist es genau dieses Überschreiten der Grenzen unserer eigenen Fähigkeiten,
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