The Cutting
das das Leben erst lebenswert macht. Es ist immer ein erhebendes Gefühl. Ob Sie in sechstausend Metern Höhe über einem Abgrund schweben oder in einem Operationssaal stehen und einen menschlichen Körper aufschneiden, um ein Herz zu verpflanzen. Genau dieses Gefühl war der Grund dafür, weshalb ich mich für die Transplantationschirurgie entschieden habe.«
Das Wort »Risikofreude« kam McCabe urplötzlich in den Sinn, und er fragte sich erneut, wo Spencer zur Tatzeit gewesen sein mochte. »Soweit mir bekannt ist, hat Mallory es nicht geschafft«, sagte er. »Die ersten Menschen auf dem Gipfel des Everest waren Edmund Hillary und Tenzing Norgay.«
»Ja. Dreißig Jahre später. 1953. Ein neuseeländischer Bienenzüchter und ein nepalesischer Sherpa. Mallory hat es versucht und ist dabei ums Leben gekommen. Die Ausrüstung, die er 1924 zur Verfügung hatte, war der Aufgabe nicht gewachsen. Der Everest ist heutzutage aufgrund der modernen Geräte leichter zu bezwingen. Nicht leicht, aber leichter. Ich bin neugierig: Gibt es gar nichts, womit Sie Ihre eigenen Grenzen austesten? Nur um zu sehen, ob Sie es können? Weil es eben da ist?«
McCabe zuckte mit den Schultern. »Ich jage Mörder. Sie sind da, genau wie der Everest – und sie zur Strecke zu bringen kann eine Herausforderung sein.«
Spencer lächelte. »Sie machen sich über mich lustig, aber ich meine es ernst. Wissen Sie was? In ein paar Wochen fahre ich hoch in den Acadia National Park, um am Precipice Trail ein bisschen zu trainieren. Die Kletterstrecke ist relativ einfach, aber es sind auch ein paar anspruchsvolle Passagen dabei. Kurze, senkrechte Felswände, die für einen Anfänger ziemlich schwierig sein können. Würden Sie es vielleicht gerne ausprobieren?«
McCabe war überrascht über die Einladung, und er fragte sich, wieso Spencer sie ausgesprochen hatte. »Ich glaube nicht.«
»Wieso denn nicht? Sie sehen doch halbwegs durchtrainiert aus. Und ich weiß, dass Sie auch den Mut dazu hätten. Tom Shockley hat mir erzählt, dass Sie am 11. September in die Twin Towers gelaufen sind und jemandem das Leben gerettet haben.«
»Tom Shockley hat eine große Klappe.« McCabe wunderte sich keineswegs darüber, dass Spencer Shockley kannte. Portland war eine kleine Stadt. Und wahrscheinlich sollte ihn auch Shockleys Geschwätzigkeit nicht verwundern. Das lag einfach in seiner Natur. »Wie auch immer, das war damals nicht geplant. Nicht so wie eine Besteigung des Everest. Oder des Mount McKinley. Ich war an diesem Morgen zufällig bei einer Sitzung in der Polizeizentrale in der Centre Street. Das waren mit dem Auto nur fünf Minuten bis zum World Trade Center. Als das erste Flugzeug eingeschlagen hat, sind wir alle rübergerast, um zu helfen.«
»Aber Sie sind in das Gebäude reingelaufen?«
»Bloß weil dort Hilfe nötig war. Sehen Sie, Dr. Spencer, ich bin Polizist. Viele meiner Kollegen haben genauso gehandelt. Ich habe nur mehr Glück gehabt als etliche von ihnen. Ich bin lebend wieder herausgekommen. Es war alles andere als Spaß. Und auch keine Herausforderung, zumindest nicht so, wie Sie es meinen. Außerdem ist es etwas Persönliches, und ich muss gestehen, ich bin alles andere als einverstanden damit, dass Shockley darüber redet. Mit Ihnen oder mit sonst irgendjemandem.«
»Woher weiß er es denn?«
»Nicht von mir jedenfalls.«
»Interessant.«
»Wenn Sie meinen. Hat Shockley noch etwas gesagt?«
»Nur, dass Sie ein hervorragender Ermittler bei der Mordkommission in New York gewesen sind und eine hässliche Scheidung hinter sich haben. Dass Sie nach Portland gekommen sind, weil Ihre Tochter in einem ungefährlicheren und gesünderen Umfeld aufwachsen sollte.«
Spencers Piepser meldete sich. Er warf einen Blick auf das Display. »Detective, ich fürchte, ich muss Sie jetzt verlassen. Sie haben mit der Ernte angefangen.« Während er aufstand, fügte er hinzu: »Ich bin gerne bereit, Dr. Mirabitos Obduktionsbericht zu lesen und ihr zu sagen, ob die Verletzungen im Zusammenhang mit einer professionellen Herzentnahme entstanden sein können. Nach Ihrer Beschreibung gehe ich eigentlich davon aus. Ob ein Schwarzmarkt für Herztransplantationen überhaupt irgendwie denkbar ist – was ich nicht glaube –, besprechen Sie am besten mit unserer Transplantationskoordinatorin hier im Cumberland. Sie kann Ihnen sehr viel mehr über die logistischen Zusammenhänge sagen als ich.«
Spencer legte die Hand an McCabes Ellbogen und geleitete ihn zur
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