The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
einer Hand von der Wand des Flurs ab, um ihr Gleichgewicht zu halten. Vor einer kleinen Tür, nur halb so groß wie die anderen, kam er schlingernd zum Stehen. »Mach sie auf!«, befahl er, Gaia presste ihren Daumen gegen den Riegel und stieß ihn mit einem Ruck heraus. Blind kroch sie hinter Leon nach draußen und schloss die Tür hinter ihnen, und einen Augenblick befürchtete sie, sie wären auf einem Balkon gefangen. Ein zweiter Blick zeigte ihr aber, dass sie auf dem Dach des Wintergartens waren. Ein schmaler eiserner Steg führte über das gewölbte Glasdach.
Leon eilte voraus. »Bleib dicht bei mir«, sagte er. »Nimm meine Hand.«
Sie griff nach seinen hinter dem Rücken gebundenen Händen und fühlte den festen Griff seiner Finger. Wenn er ausrutschte oder das Gleichgewicht verlor, hätte er keine Chance, sich abzufangen, ehe er durch das Glas brechen und fünfzehn Meter in die Tiefe stürzen würde.
»Ich habe dich«, sagte sie und schloss das Baby fest in den Arm.
Sie zwang ihre Füße auf dem engen Steg voran. Hinter ihnen hörte sie den Lärm der Wachen, die durch den Flur polterten. Sie konnte nur hoffen, dass sie die kleine Tür übersahen. Sie erreichten die Spitze des Dachs und begannen ihren Abstieg auf der anderen Seite, wo sich eine ebensolche halbhohe Tür befand. In diesem Moment rief eine Stimme hinter ihnen, dann schlug eine Kugel neben ihrem Gesicht in die Wand ein und versprühte einen Regen zerplatzenden Stucks.
»Schneller!«, drängte Leon, als sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte. Dann stieß er sie vorwärts, Gaia zog ihn hindurch, und wieder rannten sie, durch einen anderen Flur, zu einer anderen Treppe, einer Wendeltreppe, die sich nach unten in eine immer tiefere Dunkelheit wand. Fensterlose Steinwände warfen das Geräusch ihrer eiligen Schritte zurück. Die Luft hier unten war kühl und roch abgestanden, nach alten Sägespänen und Zwiebeln. »Wo sind wir?«, fragte sie.
»Im Weinkeller«, sagte er. »Irgendwo sollte es auch Licht geben.« Als sie um die nächste Ecke kamen, ließ ein Sensor eine Glühbirne aufleuchten und offenbarte einen lang gestreckten Raum mit niedriger Decke und behauenen Steinbögen. Sie eilte hinter Leon her, zwischen einem Dutzend Tischen und Regalen hindurch, die mit alten Töpfen und Kartoffeln und Rüben beladen waren. Dabei erhaschte sie einen Blick auf tiefe, katakombengleiche Nischen, die mit Flaschen und Fässern vollgestellt waren. Leon trat kräftig gegen einen großen, hölzernen Arbeitstisch mit mehreren Schubladen.
»Da drin«, sagte er über dem Geklapper zu Gaia, »schau, ob du ein Messer findest.«
Gaia blickte zurück zur Tür, wo sich Schritte näherten.
»Mach schon!«, drängte Leon.
Sie riss Schublade um Schublade auf und verteilte ihren Inhalt über den Boden, bis Leon mit dem Fuß auf ein scharfes, gezahntes Messer trat. Gaia legte das Baby auf den Tisch, griff sich das Messer und schob es zwischen die Seile, die Leons Handgelenke zusammenbanden. Mit drei ruckartigen Bewegungen hatte sie ihn frei.
»Endlich«, zischte Leon und lockerte seine steifen Handgelenke. Gaia nahm das Baby wieder an sich, gerade, als der erste Soldat erschien. »Keine Bewegung!«, rief er.
»Hier entlang!«, Leon griff ihre Hand und duckte sich in eine der Nischen. Ein Schuss explodierte, und eine weitere Kugel traf die Wand neben ihr. Sie stürzte zu Boden. Leon wuchtete Fässer von der rückwärtigen Wand, und einen schrecklichen Moment lang fürchtete Gaia, dass er sie in eine Sackgasse geführt hatte. Dann aber tat sich eine tiefere Schwärze in der Wand auf, und feuchtkalte Luft traf ihr Gesicht. Leon packte ihre Schultern, stieß sie voran, und sie taumelte in das Nichts, darauf gefasst, das Baby mit ihrem Körper zu schützen, falls sie gegen eine Steinmauer prallen sollte. Aber es war nur Leon, der von hinten gegen sie stieß, dann schloss sich die Tür mit einem Krachen hinter ihnen, und sie wurden in die Schwärze völliger Dunkelheit getaucht.
25
Die Tunnel
Gaias Augen suchten nach einem Lichtschimmer in der Finsternis, doch die Schwärze war vollkommen. Sie konnte hören, wie Leon etwas vor die Tür schob. Dann hörte sie wütendes Schlagen und unterdrückte Stimmen von der anderen Seite.
»Hilf mir schieben«, sagte Leon.
Völlig blind streckte sie ihre Hand aus und fühlte, dass er etwas Hartes und Schweres gegen die Tür presste. Sie legte ihre Schulter neben seine und drückte, so gut sie mit Maya auf ihrem anderen Arm
Weitere Kostenlose Bücher