The Hollow
Worten fesseln konnte.
Ich konnte mir keine perfektere Art vorstellen, wie ich meine Kindheit hätte verbringen können.
Plötzlich fiel mir ein lange vergessenes Projekt aus der vierten Klasse wieder ein und ich musste lächeln. Ich hatte das Gefühl, es war ewig her, dass Kristen und ich sorgfältig jeden einzelnen Namen auf den Grabsteinen der Familie Irving abgeschrieben (Abriebe waren verboten) und mithilfe von Informationen aus alten Zeitungen aus der Bücherei einen kunstvollen Stammbaum gezeichnet hatten. Außerdem hatten wir eine »Familienzeitung« entworfen mit Höhepunkten und Lieblingsgeschichten aus dem Leben aller Familienmitglieder.
Wir hatten beide eine Eins plus plus dafür bekommen.
Kristen war so stolz auf das extra Plus gewesen. Sie hatte tagelang von nichts anderem gesprochen. Ich schüttelte den Kopf und die Erinnerung verschwand erneut in meinem Hinterkopf. Seitdem war eine Ewigkeit vergangen. Und ihr Leben.
Ich spazierte langsam an den Grabsteinen vorbei und las die Daten und die Inschriften. Im Vorbeigehen begrüßte ich die einzelnen Familienmitglieder, blieb neben der riesigen Eiche stehen, die mitten zwischen den Gräbern stand, und fuhr mit dem Finger über die in den Stamm geritzten Initialen. So viele Buchstaben. So viele verschiedene Geschichten.
Aber ich blieb nicht lange dort stehen, und als ich zu Washington Irvings Grabstein kam, stieß ich auf den vertrauten Anblick der Gaben, die seine Bewunderer dort abgelegt hatten. Pennys, Zehn-Cent- und Fünfundzwanzig-Cent-Stücke waren in hohen Stapeln um den Stein herum aufgeschichtet. Das machten die Leute schon seit Jahren, zumindest, solange ich hier wohnte, und ich hatte immer noch nicht begriffen, warum.
Neben dem Grab lagen ein paar Zettel unter einigen kleinen Felsbrocken. Zweifellos Botschaften, die an den berühmten Autor gerichtet waren.
In einer Stadt, in der die Legende von Sleepy Hollow so gefeiert und in Ehren gehalten wird, ist es unmöglich, nicht über Washington Irving Bescheid zu wissen. Seine Werke gehörten als Teil der Stadtgeschichte zum Lehrplan der Schule und die Schüler wurden jedes Jahr im Englischunterricht aufgefordert, ihm Briefe zu schreiben.
Kristen und ich hatten ihm mehrere Male geschrieben. Etliche Schüler fanden es besonders aufregend, in der Nacht zu Halloween einen Brief an die Toten abzugeben. Das hatten wir ebenfalls getan. Und jetzt pflückte ich als Zeichen, dass ich hier gewesen war, ein einzelnes wildes Veilchen aus einem Blumenbüschel neben der Eiche.
Mir hatte die Legende immer schon … mehr bedeutet. Mehr als eine Schulaufgabe oder eine Lieblingsgeschichte der Stadt. Mehr als einfach nur ein Thema, über das ich mit meiner besten Freundin sprach. Mehr als alle diese Dinge. Ich weiß nicht, woher diese Faszination stammt oder warum ich sie verspüre, jedenfalls ist sie immer schon da gewesen.
»Einen schönen guten Tag wünsche ich Ihnen, Mr Irving«, sagte ich leise, als ich mich bückte und die Blume neben einen Stapel von Münzen legte. »Tut mir leid, dass ich eine Zeit lang nicht hier gewesen bin. Es hat sich einiges … geändert.«
Ich wollte nicht zu sehr darüber nachdenken, was ich sagte oder wie ich es sagte, deshalb versuchte ich einfach, ganz natürlich zu sein. »Kristen ist auch nicht mehr hier gewesen. Sie … sie kommt … überhaupt nicht mehr. Sie hatte einen Unfall.«
Die Worte hörten sich hohl und fremd an.
»Es hat eine Menge Gerüchte gegeben, aber keins davon ist wahr.« Ich sprach jetzt ganz ruhig und ließ alles heraus. »Es heißt, dass sie im Crane River ertrunken ist, aber ihre Leiche ist immer noch nicht gefunden worden. Vor ein paar Wochen hat eine Beerdigung stattgefunden. Man hat einen leeren Sarg begraben.« Beim letzten Satz brach meine Stimme und ich schwieg eine Minute lang. »Das … das ist eigentlich schon alles.«
Ich erwartete keinerlei Antwort und bekam natürlich auch keine. Eine leichte Brise kam auf und eine Sekunde lang war ich sicher, zwei kleine Mädchen lachen zu hören. Ich lauschte, aber das Geräusch war verschwunden. Niemand war da. Ich fuhr mit dem Finger über die Inschrift auf dem Grabstein und flüsterte traurig: »Ja, sie kommt nicht mehr wieder.«
Ich vernahm ein leises Rascheln, und als ich mich umwandte, sah ich einen alten Mann mit grauen Haaren, der das heruntergefallene Laub auf den Gräbern zusammenschob. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er schon hier war oder was er gehört hatte, aber er bewegte sich
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