The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
wolkenlos.
Felswände tauchen auf. Sie werden immer höher und mächtiger, während sich die Straße in langen Kurven in sie hineingräbt. Dann geht es von einem Meter auf den anderen steil bergab. Das muss der Pass sein.
Autos rasen an mir vorbei. Viele, die nach unten unterwegs sind, nehmen einfach den Gang heraus und lassen den Wagen rollen. In den Kurven wird gehupt, Lkw schwanken in Ausweichmanövern, ich presse mich an die Felswand, es ist fürchterlich.
Nur ein einziges Mal kommt mir ein Fußgänger entgegen: Er hat langes Haar und einen Bart, und er trägt einen Stoffbeutel bei sich und einen Stab. Er sieht aus wie eine Figur aus einem alten Gongfu-Film. Ein Wanderarbeiter? Ein Vagabund?
Während wir einander näher kommen, blickt er mich aufmerksam an, und als ich ihn schließlich frage, wie weit es noch bis in die Stadt ist, lächelt er und sagt höflich: »Bis nach Jingchuan sind es noch ungefähr zehn Kilometer.«
Dann geht er weiter, und ich bleibe mit einem sonderbaren Gefühl zurück.
Warum hat er den Ausdruck Kilometer benutzt und nicht Li , die chinesische Meile? Warum hatte er keinen Dialekt? Und warum wirkte seine Kleidung so sauber?
Ich blicke an mir selbst herunter, und mir ist, als ob der Staub der letzten dreieinhalbtausend Li an mir haftet. Als ich den Kopf wieder hebe, verschwindet der Mann gerade hinter einer Kurve – ich sehe noch einmal seinen Beutel wippen, dann ist er fort. Ich versuche mir vorzustellen, wer er gewesen sein könnte. Ein Wanderer vielleicht.
In Shanghai steht die Statue eines solchen Mannes. Sein Name war Yu Chunshun. Er bereiste Ende der Achtziger acht Jahre lang fast das gesamte Land zu Fuß. Dann, im Juni 1996, wollte er die Wüste Lop Nor in Xinjiang durchqueren, geriet in einen Sandsturm und verdurstete. In seinem Tagebuch bin ich immer wieder über das Wort »Wille« gestolpert, und manchmal habe ich mich gefragt, ob es nicht eigentlich mehr so etwas wie ein Zwang für ihn gewesen ist.
Die Felswände sind nicht undurchdringlich. An manchen Stellen öffnen sie sich, und dann geben sie den Blick frei auf wogende Täler, die weiß und rosa mit Pfirsich- und Aprikosenblüten gesprenkelt sind. Ich bestaune sie aus der Ferne, bis ich zu einem Zaun mit dem Schild ÜBERKLETTERN VERBOTEN komme. Ich steige darüber hinweg und suche mir mit vorsichtigen Schritten einen Weg ins Tal hinab. Nach einer Weile ist von der Straße und dem Brummen der Zivilisation nichts mehr zu hören. Vögel zwitschern, Hummeln summen. Die Blüten der Obstbäume duften. Sie sind zart wie Schneeflocken.
Das also ist ein Pfirsichhain , denke ich, und mir fällt es nichtmehr schwer, mir die Helden der Drei Reiche bei ihrem Freundschaftsschwur vorzustellen. Fast fünf Monate ist es jetzt her, dass ich mit Zhu Hui in Zhuozhou war.
Ich lasse mein Gepäck fallen und breite die Isomatte aus, lege die Schuhe mit den Einlagen und den Socken zum Trocknen aus. Dann untersuche ich meine Füße: Der rechte ist einigermaßen gut verheilt, und die Stelle, an der die Infektion war, wird langsam zu einer Narbe. Der linke sieht nicht so gut aus, an der Ferse ist er aufgeschürft. Ich untersuche den Schuh und erschrecke: Das Innenfutter hat sich abgelöst. Eine Zeit lang drücke ich darauf herum, dann lege ich mich hin und vergesse meine Not. Ich liege unter Aprikosenbäumen und lausche dem Gesang der Vögel, warum sollte ich mich aufregen?
Ein zärtlicher Hauch streichelt um die Bäume und um das Gras. Ich ziehe mein T-Shirt aus und blicke mich um: Niemand ist zu sehen. Ich öffne meine Hose, ziehe sie aus. Dann die Unterhose. Ich bin nackt in meinem Tal, die Sonne brennt nicht, sie wärmt.
Es passiert wie von selbst. Es gibt keine Vorstellungen, keine Bilder, kein Verlangen und keinen Wunsch. Es ist auch nicht die Suche nach dem Moment der Klarheit, der danach kommt. Das Tal und ich, wir sind allein. Es ist warm und hell, es duftet nach Aprikosen und Pfirsichen. Ich ergieße mich in die Welt und schlafe ein.
MEIN BLÜTENKRANZ
Ich bleibe zwei Tage in der kleinen Stadt Jingchuan. Sie liegt an einem Fluss in der Ebene, die eigentlich eher wie ein langes Tal ist. Auf beiden Seiten ragen die Berge empor.
Ich trage meine Schuhe zum Markt und frage mich bis zum Schuhmacher durch. Er sitzt mit seinen Kollegen im Schatteneiner Zeltplane und wartet auf Kundschaft. Eine Zigarette hängt ihm aus dem Mundwinkel.
Als ich ihm erklärt habe, worum es geht, guckt er sich das Innenfutter meines Schuhs an und schlägt
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