The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Beijing, wo ich nur lieblose Hinterhofklitschen und überteuerte Hochglanzstudios kennengelernt habe und jene Läden natürlich, die fast alle »Friseursalon aus Wenzhou« heißen und im Halbdunkel Dienste anbieten, für die man keine Schere und auch keine Trockenhaube braucht.
Dies wäre der richtige Ort , fährt es mir durch den Kopf: Wenn ich mir jemals die Haare abschneiden würde, dann hier. Doch der Gedanke an sich ist schon unmöglich. Die Haare und der Bart gehören schon lange zu den Regeln meines Laufens.
DUMMES EI
Vor mir erhebt sich noch ein weiteres Gebirge. Ich kenne seinen Namen nicht, aber es ist definitiv da: ockerfarbene Höhen, die Straße ein graues Band, nur wenige Bäume und Häuser.
Ich laufe im T-Shirt, und meine Schritte sind leicht. Eigentlich schmerzen mir zwar die Füße, und meine Erkältung ist auch immer noch zu spüren, aber ich denke an die Industriestadt Lanzhou. Über diesen Berg noch, und dann kann sie nicht mehr weit sein, sage ich mir. Essen und trinken, in weißer Bettwäsche liegen. Lanzhou.
Es ist still. Meine Schritte machen ein gleichmäßiges knirschendes Geräusch auf dem Asphalt, die Spitzen der Trekkingstöcke klingen hell. Vor einem Haus sprießt ein knorriger Baum, daneben steht etwas, das aussieht wie eine Satellitenschüssel. Ein Sonnenherd. In Lhasa habe ich so ein Ding zum ersten Mal gesehen, fast zwei Jahre ist das jetzt her. Die Schüssel ist von innen verspiegelt, und sie bündelt das Licht auf einen Topf, der in ihrer Mitte aufgehängt ist. Wenn die Sonnenstrahlen stark genug sind, wird irgendwann zarter Dampf aus dem Topf aufsteigen und zeigen, dass das Wasser kocht.
Ich höre eine Stimme hinter mir. »Hello«, ruft jemand atemlos. Ich drehe mich um und erblicke einen Fahrradhelm und eine verspiegelte Sonnenbrille.
Wang Qin ist aus Shanghai. Er hat seine Stelle bei einer Logistikfirma gekündigt und ist mit dem Rad aufgebrochen, um sein Land zu bereisen. »Einmal ganz herum«, sagt er grinsend und beschreibt mit der Hand einen Kreis, so groß wie ein Kontinent.
Er ist zwei Jahre älter als ich, genauso wie mein Freund Xiaohei, für den ich am Anfang solch eine Enttäuschung war, weil ich kein Bier trinken wollte und mich nicht für Fußball interessierte.
Wang Qin schiebt sein Fahrrad neben mir her, und wir unterhalten uns. Als das Gespräch auf Beziehungen kommt, sage ich: Nein, ich habe keine Freundin. Er lacht und sagt, dass das wahrscheinlich auch nicht sehr praktisch für mich wäre. Ich lache mit, doch insgeheim überlege ich, ob es billige Flüge nach München gibt. Zu Juli.
Wir gehen zusammen bis zum höchsten Punkt des Berges. Ein winziges Dorf liegt dort an der Straße, wir essen in einer Raststätte zu Mittag. Es gibt Mantou-Brötchen und Tomate mit Ei, und während wir an Knoblauchzehen herumnagen und unsere Essstäbchen in fettige Schüsseln tunken, ist es wie damals mit Zhu Hui: Die Leute fragen, wo mein Fahrrad abgeblieben sei und woher ich komme, und mein Freund muss für uns beide das Reden übernehmen.
Als wir uns voneinander verabschieden, setzt Wang Qin den Helm und die Sonnenbrille auf und schwingt sich auf sein Rad. Ich kann mich selbst in dem verspiegelten Glas sehen, wie ich den Arm ausstrecke, um ihm die Hand zu schütteln. Er wünscht mir einen sicheren Weg und ich ihm Rückenwind, dann setzt er sich mit einem Pedaltritt in Bewegung und rollt langsam den Abhang hinunter. Sein Fahrrad klickt im Leerlauf, und das Geräusch wird immer schneller, je mehr Schwung er aufnimmt. Er muss nicht viel tun: Vor ihm liegen Kilometer über Kilometer, die es nur bergab gehen wird. Er verschwindet in einer Kurve, und ich bin mit den Dorfbewohnern allein.
»Dein Freund ist schneller als du«, bemerkt einer, und ein anderer fügt nachdenklich hinzu: »Warum tut ihr das eigentlich?«
Er meint das Reisen, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Während ich noch nach einer Antwort suche, wird mir bewusst, dass Wang Qin und ich einander genau diese Frage nicht gestellt haben. Als ob wir beide die Antwort kennen würden.
Es wird ein quälender Abstieg. Lang, staubig, über Baustellen und Schotterwege. Ich bin erleichtert, als ich endlich wieder die Ebene erreiche. Vor einem Kiosk sitzen zwei alte Männer. Ich kaufe mir eine Cola und setze mich dazu.
Ja, den Fahrradfahrer hätten sie gesehen, sagen sie. Er sei am Nachmittag vorbeigekommen. Sehr staubig sei er gewesen, und er habe einen Helm auf dem Kopf gehabt, einen Helm! Sie lachen amüsiert. Wang
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