The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
wird auch langsam Zeit. Die ausgebesserte Stelle in meinem Schuh scheuert, und die Straße macht das Laufen nicht besser, denn sie ist schon seit mehreren Hundert Kilometern leicht nach außen abgeschrägt. Es muss damit zu tun haben, dass das Wasser besser abfließen soll, wenn es plötzlich einmal regnet, aber es bedeutet, dass ich seit Wochen in einer leichten Schräglage laufe. Es ist nur schwer erträglich.
Ich rufe Juli an und erzähle ihr, wie schön es hier draußen ist auf dieser Bergstraße. Die Schluchten und Täler erinnern mich an Amerikas Westen, so wie ich ihn einmal aus einem Autofenster habe vorbeirauschen sehen: großartig und golden, mit einem gelben Mittelstreifen. Sie sagt nichts. Ich rede weiter, aus Angst vor dem Schweigen, erzähle ihr von den Kindern, von den Ruinenfestungen und von den streberhaften Rennradfahrern. Ich rede und rede, bis irgendwann die Verbindung schwächer wird und ganz abreißt. Es ist ein schlechter Abschluss für ein Gespräch, bei dem das Wichtigste ungesagt blieb.
In der kleinen Stadt Huining finde ich ein Zimmer über einem Karaoke-Laden. Türen gehen auf und zu und spülen Gesang in den Gang, aber das ist mir egal. Ich schlafe eine Nacht, und als ich aufwache, habe ich endlich die Erkältung, die sich in den letzten Tagen angekündigt hat. Sie erwischt mich wie ein dumpfer Schlag.
»Chinesische oder westliche Medizin?«, fragt die Apothekerin, und es hört sich an, als ob die westliche besser zu mir passen würde. Ich nehme vorsichtshalber noch ein paar Fläschchen von der chinesischen Medizin mit. Man kann ja nie wissen.
Die nächsten drei Tage verbringe ich in Huining in einem Zustand der Schwerelosigkeit. Wenn ich nicht in den Fluren zwischen den Karaoke-Zimmern herumwandele, sitze ich stundenlang in einem Kiosk auf einem Stuhl, den mir der Besitzer neben die Eingangstür gestellt hat. Leute kommen und erledigen ihre Einkäufe, manche von ihnen bleiben, um sich zu unterhalten. Das Licht fällt durch ein grün getöntes Fenster ein, und ich weiß, dass Huining in meiner Erinnerung der grüne Ort mit den Würsten und den Cola-Flaschen sein wird. Der Kioskbesitzer ist nett. Er rät mir, beide Sorten Medikamente zu nehmen, die westliche und die chinesische, aber nicht auf einmal, sondern in zeitlichen Abständen, und so mache ich es auch.
Dann zieht es mich fort.
Die Straße legt sich wie ein Schal um die Berge. Sie folgt den Tälern und meidet die Höhen, und mehr als einmal werde ich ungeduldig, als mir ihre Windungen gar zu weitschweifig erscheinen. Doch ich kürze nicht ab, und sie belohnt mich, indem sie mich immer wieder durch kleine Dörfer und Siedlungen bringt. Dafür bin ich ihr dankbar.
Ich sitze im Schatten eines großen Baumes und döse vor mich hin, die Borke im Rücken, als Bilder aus der Anfangszeit meiner Wanderung in mein Gedächtnis zurückkehren. Fast ein halbes Jahr ist es her, dass ich in Beijing die Tür hinter mir habe zufallen lassen, und alles ist anders seitdem. Dort war überall Beton, und überall waren Leute. Hier stehen einzelne Bauernhäuser aus Lehm, und ich sitze auf der Erde und lausche den leisen Melodien des Dorfes: Irgendjemand sägt Holz, der Wind trägt ein Kinderlachen herüber und raschelt leise in den Bäumen.
An diesem ersten Abend nach der Stadt Huining komme ich in ein Dorf mit einem prachtvollen neuen Tempel, aber ohne Gasthaus. Ich sitze eine Weile auf dem Platz vor dem Tempel und gucke der Abendsonne dabei zu, wie sie die roten Wände immer wärmer und wärmer erscheinen lässt, bis sie aussehen, als ob sie sanft glühen.
Ein junger Mann sitzt neben mir und trinkt Bier. Ich sage ihm, dass ich nicht weiß, wo ich übernachten soll. Er überlegt kurz und gibt die Frage an einen Kollegen weiter. Der erzählt es der Chefin eines Friseursalons. Und schon habe ich ein Zimmer.
Die Chefin guckt begierig auf mein Haar und meinen Bart. Ich weiß, sie würde nur zu gern die Schere zücken, deshalb versuche ich, ihr den Ernst und die Bedeutung meines A Gan-Aussehens zu erklären. Doch sie lacht nur schallend und sagt: »Ach, ihr jungen Leute!« Und es dauert ein bisschen, bis mir mit einem seltsam warmen Gefühl klar wird, dass mich dieser Ausdruck genauso einschließt wie alle anderen jungen Leute in diesem Ort.
Der Friseursalon ist schön: Es gibt Holzmöbel und ein halbes Dutzend Pflanzen, und man merkt, dass die Besitzerin sich hier mehr als nur einen Arbeitsplatz eingerichtet hat. Alles ist so ganz anders als in
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