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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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Qin, denke ich, dann leere ich meine Cola und folge der Richtung, in die er vorausgefahren ist. Die Abendsonne hat eine Allee in honigfarbenes Licht getaucht. Schulkinder kommen mir auf ihren Fahrrädern entgegen und kichern. Ihre Stimmen hören sich an wie das Zwitschern der Vögel.
    Die nächsten Tage sind leicht. Ich lege eine Ruhepause in dem kleinen Ort Chankou ein und verbringe Stunden unter einem Sonnenschirm vor einem Restaurant. Der Wind blättert gemächlich die Seiten meines Buches um, ich trinke Tee und schaue dem Verkehr zu: Lkw und Kleinlaster, dazwischen ab und zu ein Mofa. Chankou ist eine Durchfahrtsiedlung, doch die Häuser sind mehrstöckig und sehen so aus, als ob sie sich selbst bereits als Vorort von Lanzhou verstehen. Es sind noch achtzig Kilometer bis in die Stadt, und der Chef des Restaurants, ein dicker Hui mit Bart, hat mir erklärt, dass ich auf dem Weg dorthin noch ein kleines Gebirge werde überqueren müssen.
    Zum Glück ist es terrassiert und nicht sehr hoch. Ich laufe ohne Eile. Einmal bleibe ich bei einer Gruppe von Leuten stehen. Sie haben Pinsel und Farbeimer in der Hand und bemalen die Begrenzungspfähle am Straßenrand. Wir stellen fest, dass ich schon seit mehreren Tagen an ihrem rot-weißen Werk vorbeigegangen bin, ohne es zu merken, und es gibt ein großes Gelächter.
    Wenig später ist alles gelb. Vor mir wogt der Raps bis zum Horizont, ich streiche mit der Hand über seine Blüten. Als kleines Kind bin ich gern durch Rapsfelder gelaufen, denn die Pflanzen waren so hoch, dass sie wie ein duftendes Labyrinth zum Verstecken waren. Man musste nur eine gute Stelle suchen und die Stängel zu einem Dach über sich zusammenbiegen, und schon war man unauffindbar. Ich blicke über das gelb leuchtende Feld hinweg und frage mich, ob sich vielleicht gerade jetzt Kinder darin verstecken und über die Welt der Erwachsenen kichern.
    Ich laufe, bis irgendwann am Abend eine Herberge auftaucht. Lkw und Busse stehen davor, ich bekomme ein Zimmer, die Scheiben sind mit Zeitungspapier verklebt. WIE AUSLÄNDER IHRE HUNDE ERZIEHEN, steht da, und der zugehörige Artikel lobt besonders die deutschen Hundebesitzer in den höchsten Tönen – diszipliniert und konsequent seien sie, deutsch eben. Mama hätte wahrscheinlich laut gelacht.
    Ich breite meine Sachen auf dem Bett aus, als das Telefon klingelt. Es ist Juli, sie weint. Sie möchte keinen Kontakt mehr mit mir. Der Schreck geht durch mich hindurch wie kaltes Glas.
    Ich frage, ob das bedeute, dass wir uns trennen.
    »Ja, das bedeutet es.«
    Aber waren wir denn überhaupt jemals zusammen?
    Sie wird wütend.
    Wir streiten uns darüber, was »zusammen sein« bedeutet, bis sie plötzlich aufschluchzt.
    Ich weiß, was passiert ist: Der Grund ihres Anrufs ist ihr wieder eingefallen.
    Sag bitte nichts, flüstere ich. Ich komme sofort zu dir, sobald ich in Lanzhou bin. Ich bin schon für einen blöden Pass nach Beijing geflogen, warum sollte ich jetzt nicht für dich nach Deutschland kommen?
    Stille.
    Ich will unbedingt München wiedersehen!
    Ein Glucksen, halb Lachen und halb Weinen, aber besser als nichts. Juli weiß, wie wenig ich München leiden kann.
    Komm schon, wir essen Leberkäse und gehen im Englischen Garten spazieren!
    Das Glucksen wird fröhlicher, und dann sagt sie es endlich: Du dummes Ei!
    Als ich auflege, habe ich zwar immer noch keine Freundin, aber eine Verabredung. Ich öffne die Tür zum Hof, und Finsternis schwappt mir entgegen. Die Laster liegen da wie schlafende Dinosaurier, über ihnen prangt der Nachthimmel. Je länger ich nach oben blicke, desto deutlicher werden die Sterne, bis sie irgendwann so dreidimensional aussehen, als ob ich mit der Hand zwischen sie greifen könnte, um einen von ihnen herabzuholen. Es ist still. Ich greife nach dem Lichtschalter neben der Tür, lege ihn um, und die Welt versinkt komplett in der Dunkelheit. Irgendwo bellt ein Hund. Ich blicke nach oben und warte, bis die Sterne wieder aus der Schwärze hervortreten. München also. München.

BEBEN
    Lanzhou, dein Name ist Betörung. Lan heißt »Orchidee«, und Zhou heißt »Präfektur« oder »Land«. Lanzhou, »Land der Orchidee«? Wenn ich diesen Namen höre, dann denke ich an Blumen und an Schmetterlinge. Früher hieß die Stadt Jincheng, Goldstadt, doch der erste Kaiser der Sui verlieh ihr vor anderthalb Jahrtausenden diesen neuen Namen.
    Nur: Wo sind sie, die Orchideen?
    Die Luft wird dicker, je näher ich der Stadt komme. Sie lebt von der

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