The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
der Sonne. Noch über zwanzig Kilometer bis in den nächsten Ort. »Vermietet ihr hier auch Betten?«, frage ich den Wirt, und er strahlt und antwortet auf Englisch: »Yes, we do!«
DER GRÖßTE NARR UNTER DER SONNE
Er steht unter einer Brücke, zuerst bemerke ich ihn gar nicht: ein hölzerner Karren, so groß wie ein Schrank, auf zwei Rädern. Vorne hat er hölzerne Ziehgriffe, auf allen Seiten kleben Zeitungsartikel. »Zu Fuß durch Tibet«, steht auf einem, darunter ist das Foto eines lächelnden Mannes zu sehen. Ich blicke mich um: Die Brücke steht still da, draußen glüht die Gobi, weit und breit ist niemand zu sehen.
Ich beschließe, abzuwarten und die Zeitungsartikel zu lesen, dabei stütze ich mich mit der Hand auf dem Wagen ab und trommele mit den Fingern auf ihm herum. Und plötzlich rührt sich im Inneren etwas: Es rumpelt, ich höre ein Ächzen, dann geht auf der anderen Seite eine Klappe auf, und der Mann vom Foto erscheint. Er ist klein, vielleicht noch kleiner als Juli, und er sieht aus, als wäre er etwa so alt wie mein Vater.
Er wirft die Arme hoch. »Ah, ein Ausländer!«, ruft er in einem starken südchinesischen Dialekt, dann lüftet er seinen Hut und grinst. Ihm fehlen mehrere Zähne.
Ich grinse zurück. Neben seiner zierlichen Gestalt komme ich mir vor wie ein Riese.
»Wie lange schon?«, frage ich.
Er guckt einen Moment in die Luft, dann sagt er: »Jetzt ist 2008, und ich bin 1983 losgelaufen, das macht dann …«
Ein Vierteljahrhundert! Ich fasse mir an den Kopf. Der Mann läuft schon fast so lange herum, wie ich überhaupt auf der Welt bin!
Als ich ihm sage, dass ich vor acht Monaten in Beijing aufgebrochen bin, um in meine deutsche Heimat zurückzulaufen, strahlt er und verkündet: »Deutschland-ah! Kangde-ah, Nicai-ah!«
Seine Stimme verhallt unter der Brücke, und erst als er sagt: »Philosophie!«, verstehe ich, was er meint: Kant und Nietzsche.
Wir laufen zusammen weiter. Er schlägt mir vor, meinen Rucksack auf seinem Karren zu transportieren, und als ich darauf beharre, ihn selbst zu tragen, schüttelt er den Kopf und sagt: »Ihr Deutschen, immer so ernsthaft!« Sein Lachen hört sich keckernd an, wie das eines Kobolds.
Er heißt Xie Jianguang, und er ist tatsächlich so alt wie mein Vater. Sein Elternhaus liegt an der fernen Küste, in einem Dorf in Zhejiang. Er ging während der Kulturrevolution zur Grundschule, dann arbeitete er als Gehilfe bei einem Tischler. Er streckt seine Hände aus: Beide Zeigefinger fehlen. »Die Arbeit wollte ich nicht ewig machen!«, sagt er und lacht.
Mit achtzehn wurde bei ihm eine Herzkrankheit festgestellt. Er musste sich einer riskanten Operation unterziehen, danach hielt er es nur noch ein paar Jahre aus. Mit vierundzwanzig schnürte er sein Bündel und lief los, um die Berge von Yunnan zu sehen.
Seit einem Vierteljahrhundert ist er nun unterwegs, und der Holzkarren ist sein Zuhause, in dem er kocht und schläft. Wenn er Geld braucht, hilft er irgendwo bei der Ernte, oder er geht in eine Mine. Mittlerweile gibt es aber auch Intellektuelle und Journalisten, die ihn ab und zu unterstützen.
»Ich war zwar nur fünf Jahre in der Schule«, sagt er undschwenkt einen der Stümpfe seiner Zeigefinger, »aber ich habe schon Vorträge an Universitäten gehalten!«
»Nicht viele Leute kennen Kant und Nietzsche, Lehrer Xie«, sage ich.
Er winkt ab. »Ach, nenn mich nicht so, sag großer Bruder oder Onkel zu mir! Manche Leute nennen mich auch einfach größter Narr unter der Sonne.«
Aber ich kann sehen, wie es ihm gefällt.
Lehrer Xie.
Als wir an einem Imbiss vorbeikommen, lade ich ihn zum Essen ein. Er besteht darauf zu bezahlen, weil er älter ist als ich, aber schließlich lässt er sich doch überreden.
»Deine Freundin ist wichtig für dich«, sagt er, während wir uns über unsere Teller mit Nudeln beugen. »Was machst du, wenn dich der Winter im Tian Shan festhält, dreißig Grad unter null mit Schnee auf den Pässen – nimmst du dann einen Zug oder ein Auto?«
»Dann warte ich.«
»Aber wartet sie auch?«
Ich schweige. Ich könnte ihm von unserem Plan erzählen, uns im Sommer zu treffen. Vielleicht wird Juli zu mir kommen oder ich zu ihr.
Doch ich nicke nur.
»Ihr Deutschen«, sagt Lehrer Xie, nachdem wir mit dem Essen fertig sind und er sich eine Zigarette angezündet hat, »ihr beharrt immer auf euren Prinzipien. Das ist auf Dauer nicht gut. Du willst nach Hause laufen, das kann ich verstehen. Ich würde mitkommen, wenn ich
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