The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Umstehenden.
»Genossen«, rufe ich, und ein paar Leute kichern. Es ist ein heißer Tag an diesem kleinen Ort, sie verdienen ihr Geld mit der Landwirtschaft und dem Verkauf von Essen und Getränken an die Durchreisenden, der Boden vor ihren Häusern ist staubig, und es passiert selten etwas Interessantes. »Holt eure Stühle herbei«, sage ich, »setzt euch am Straßenrand in den Schatten, denn heute werdet ihr etwas zu sehen bekommen!«
Ich zeige auf die Polen. »Die beiden hier sind mit dem Fahrrad von Griechenland bis hierher gefahren!«
»Oh!«, macht jemand.
»Und sie sind nicht allein! Sie gehören zu einer zwanzigköpfigen osteuropäischen Gruppe, die in Athen aufgebrochen ist, um die Spiele in Beijing zu unterstützen!«
»Ah!«
»Aber damit nicht genug! Ihre Gruppe hat unterwegs noch zwanzig deutsche Fahrradfahrer getroffen, die auch von Athen aus nach Beijing fahren!«
»Oha!«
»Aber auch das ist noch nicht alles! Diese zwei Gruppen haben wiederum vierzig Fahrradfahrer getroffen, die von Paris nach Beijing aufgebrochen sind. Komplett mit Versorgungswagen und Bussen und allem, was dazugehört!«
Gespannte Blicke. Als ich merke, dass mein Publikum darauf wartet, dass noch mehr kommt, klatsche ich in die Hände und sage: »Das ist alles! Eine Menge Ausländer auf Fahrrädern!«
»Achtzig Franzosen aus Griechenland?«, ruft jemand lachend.»Die müssen aber gern Rad fahren – ich nehme schon bis nach Nanhua den Bus!«
Die beiden Polen verabschieden sich, ich bleibe noch eine Weile vor dem Kiosk und esse Eis. Ein kleiner Junge kommt und sagt: »Vor ein paar Tagen war jemand da, der war wie du.« Ich denke, er meint die mysteriöse Frau mit dem Esel, von der ich schon so lange nichts mehr gehört habe, doch er schüttelt den Kopf. »Ein Onkel mit einem großen Holzkarren war das, so wie der da«, sagt er und zeigt auf meine Kabutze.
Ich weiß, wen er meint. Ich hole mein Handy heraus. »Lehrer Xie, hast du die Fahrradfahrer aus Europa gesehen?«
Er lacht. »Die Roten? Ja, die sahen prächtig aus!«
»Die Roten? Ich weiß nicht, was du meinst!«
In diesem Moment zeigt jemand auf die Straße: glänzende Fahrräder, geduckte Körper, pumpende Waden. Sie tragen knallrote Trikots, und mit einem Rauschen fahren sie an uns vorbei. Es hört sich an wie ein Schwarm Spatzen.
»Das sind die Teilnehmer der französischen Gruppe«, erkläre ich den Leuten, die neben mir stehen und dem Schauspiel fasziniert hinterherblicken. Eine Frau dreht sich zu mir um und fragt: »Sind alle alten Leute bei euch so fit?«
Der Weg ist eine lange, baumbestandene Allee ohne Kurven. Ich ziehe meine Kabutze langsam durch die Hitze, manchmal überholt mich ein Lkw oder ein Trecker, sonst ist es still. Die europäischen Fahrradfahrer kommen mir in kleinen Gruppen entgegen. Wenn ich sie in der Ferne sehe, sind sie bunte Punkte, die langsam größer werden. Irgendwann kann ich Helme, Trikots und strampelnde Beine erkennen, Männer und Frauen, alte und junge Leute. »Hello!«, rufe ich und: »Salut!« Doch die meisten rasen einfach an mir vorbei.
Einmal hält eine Gruppe an. Es sind Franzosen, Belgier, Dänen, Amerikaner, Deutsche und Chinesen. Wir machen Gruppenfotos und tauschen Adressen aus, und es taucht die sorgenvolleFrage auf, ob die Wüsten denn nun endlich vorbei seien. Ich antworte, ich sei bisher nur durch ein paar kurze Wüstenabschnitte gekommen, und alle atmen erleichtert auf.
Als ich später den Punkt erreiche, an dem ich seit Beijing genau dreitausend Kilometer hinter mich gebracht habe, bin ich immer noch in den Geröllfeldern der Gobi. Der Abend hat die Luft etwas abgekühlt und die Welt in sanfte Farben getaucht, ein leichter Wind trocknet meine Kleidung. Ich stelle das Stativ auf den Asphalt und krame die kleine Kamera hervor, mit der ich meine Filme mache.
Doch sie lässt sich nicht einschalten.
Eine Weile drücke ich hilflos auf ihr herum und überlege, ob ich auch tanzen könnte, ohne mich dabei zu filmen. Dann kommt mir eine bessere Idee: Ich nehme die Isomatte aus der Kabutze, dazu eine Melone, ein Messer und einen Löffel, und damit setze ich mich an den Straßenrand. Früher oder später wird schon einer der anderen europäischen Fahrradfahrer vorbeikommen.
»Du meinst Andrzej!«, ruft Carlotta ungläubig. »Das kann doch nicht wahr sein!« Sie lacht aus vollem Hals, während ihre beiden Begleiter mich mit großen Augen anschauen.
Ich habe die drei in dem Dorf kennengelernt, wo ich die Nacht
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