The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
hätten ihn und seine Pferde völlig zerstochen. Er muss diesen Ort gemeint haben, wahrscheinlich gibt es in der Nähe eine Imkerei oder ein Nest, und deshalb sind die Tiere so feindselig.
Ich schreite schneller aus, denn ich fühle, wie Panik in mir aufsteigt.
Seit ich klein bin, weiß ich: Wenn man im Sommer aus einer Dose trinkt, dann immer mit einem Strohhalm. Sonst läuft man Gefahr, eine Biene oder eine Wespe zu verschlucken und von ihr in den Hals gestochen zu werden. Und was dann passiert, ist furchtbar: Die Einstichstelle schwillt an und blockiert die Atemwege, und man erleidet den sicheren Erstickungstod, wenn einem nicht jemand mit einem Messer in den Hals schneidet, eine klaffende Wunde, durch die man blutige Luftblasen röchelt.
Ich war ungefähr sechs Jahre alt, als ich auf einer Schaukel in unserem Garten saß und sang. Um mich herum waren Blüten, meine Schwester Becci war noch zu klein zum Schaukeln, und ich schwang hin und her und sang, als ich plötzlich etwas im Mund spürte.
Es zappelte auf meiner Zunge herum, und während ich noch spuckte, stach es schon. Ich fühlte einen heißen Schmerz durch meinen Mund schießen, und dann, als ich den gelb-schwarzen Insektenkörper auf dem Boden in meiner Spucke liegen sah, erkannte ich, dass ich sterben musste, wenn mir nicht jemand den Hals aufschnitt.
Es machte keinen Unterschied, dass das Tier nur in meine Zungenspitze gestochen hatte und mir damit keine Lebensgefahr, sondern nur Unmengen von Eis bescherte. Die Angst war echt, und sie ist es heute noch, wenn ich schwarz-gelb gezackte Leiber sehe und dieses eigentümlich bösartige Summen höre. Dann laufe ich mitten im Gespräch fort oder verlasse den Raum, und nachher lache ich dann, damit die Leute denken, dass es nicht ganz ernst gemeint war.
Die Bienen sind überall, und sie sind verärgert. Ich bin in ihr Territorium eingedrungen, und sie wollen mich vertreiben, ich gehe schneller und schneller, um sie hinter mir zu lassen, doch es werden immer mehr. Ich blicke mich um: Das Land ist grün, ich bin in einer kilometerlangen Oase, ich sehe Bäume und Felder, das Nest kann überall sein.
»Geht weg!«, rufe ich laut, und ich rufe es auf Deutsch. »Haut ab, und lasst mich in Ruhe!«
Ich weiß, ich darf nicht nach ihnen schlagen, aber ich fühle sie in meinem Haar, sie krabbeln und zappeln darin herum. Mit einem Arm mache ich kreisende Bewegungen um meinen Kopf, mit dem anderen ziehe ich die Kabutze. Ich renne, meine Schritte stampfen immer schneller über den Asphalt, ich beschimpfe die Bienen als Arschlöcher, die sich verpissen sollen.
Doch es werden immer mehr.
Sie lieben meine Haare, sie müssen sie an ihr Nest erinnern oder an eine wirre Blume. Ich schlage auf meinen Kopf und spüre ein Stechen, ich schlage noch einmal, und etwas summt wütend an meinem Ohr. Ich blicke mich um, meine Augen suchen Wasser, mit dem ich mich begießen kann, in das ich springen kann, in dem ich mich verstecken kann vor den wütenden Bienen.
Doch da ist nur eine Tankstelle am Wegesrand. Davor stehen Leute und gucken mir interessiert zu, wie ich renne und brüllend um mich schlage, und es dauert einen Moment, bis mirauffällt, dass sie völlig gelassen aussehen, genau wie der Mann vor dem Kioskeingang ein paar Meter weiter. Doch da bin ich auch schon an ihnen vorbei.
Die Straße beschreibt eine Kurve, ich folge ihr fluchend und fuchtelnd, dann sehe ich eine Einfahrt und ein Schild: LANDHERBERGE ZUM ANGENEHMEN DUFT. Ich biege ein, die Kabutze scheppert über einen Stein und ein Stück Schotter, ich sehe drei Männer um einen Tisch sitzen, sie spielen Karten im Schatten einer großen Weide.
»Ich muss ins Haus!«, rufe ich im Laufen, und sie blicken überrascht auf.
»Ins Haus, ins Haus! Ich werde von Bienen verfolgt!«
Ich lasse die Griffe der Kabutze zu Boden fallen, einer der Männer zeigt auf die Haustür, ich drücke sie auf, zwänge mich hinein und mache sie sofort wieder hinter mir zu. Mit beiden Händen durchwühle ich mein Haar und meine Kleidung, Bienen und Bienenstücke fallen zu Boden, ich trete wieder und wieder auf ihnen herum, bis ich sie nicht mehr sehen kann, dann lehne ich mich erschöpft an die Wand und tue nichts anderes als zu atmen, bis sich mein Herzschlag wieder normalisiert. Ich spähe aus dem Fenster nach draußen. Die drei Männer sitzen noch immer bei ihrem Kartenspiel, die Kabutze steht in der Einfahrt. Ich öffne die Tür einen Spalt weit, alles ist ruhig.
»Sind sie weg?«,
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