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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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Antwort kommt nur ein unterdrücktes Stöhnen.
    Es ist Nacht. Ich sitze vor dem Zelt, mein Bruder liegt auf dem Rücken vor mir. Der Sturm tobt, das Zelt erzittert, meine Stirnlampe erhellt einen kleinen Ausschnitt der Finsternis. Ich habeeine Wasserflasche in der Hand. Rubens Augen sind rot und angeschwollen. Er guckt mich an, aber ich sehe keine Sorge in seinem Blick. Ich spüle ihm vorsichtig mit etwas Wasser die Augen aus, und während er es reglos über sich ergehen lässt, wird mir klar, dass all dies für ihn anders ist als für mich: Er macht sich keine Gedanken. Er ist mit seinem großen Bruder unterwegs, und er weiß, dass alles gut wird, solange ich da bin.
    »Alles wird gut«, sage ich zu ihm, während das Wasser seine Schläfen hinabrinnt. Dabei mache ich mir Sorgen. Der Schein meiner Lampe kommt mir klein und schwach vor, um uns herum wütet der Sturm in der Finsternis, und im Umkreis von dreißig Kilometern ist keine Menschenseele zu finden. Ich bin ein Idiot, aber das sage ich meinem Bruder nicht.
    Die Nacht vergeht wie im Fieber. Wir liegen schwitzend im Zelt eingezwängt, zwischen uns eine Lage Gepäck, die Luft ist heiß und stickig. Die Zeltwand klebt mir im Gesicht.
    Ruben kann auch nicht schlafen.
    »Wenn Mama uns jetzt so sehen könnte, würde sie bestimmt lachen«, sagt er, und ich überlege eine Weile, dann antworte ich: »Das tut sie.«
    Am nächsten Morgen ist der Sturm immer noch nicht vorbei. Ruben kommt aus dem Zelt und kann seine Augen nicht mehr öffnen. Sie sind zugeschwollen und tränen, er sieht aus wie ein verwundeter Seehund.
    Scheiße, denke ich, aber ich sage: »Alles wird gut!«
    Dann gebe ich ihm meine Schlafmaske und seine Sonnenbrille. Er soll beides aufsetzen und seine Augen schonen. Ich baue das Zelt ab und packe unsere Sachen ein, dann erkläre ich, dass der Moment unserer Vereinbarung gekommen ist.
    »Ich weiß«, seufzt er.
    »Also, bis nach Dunhuang sind es noch mindestens achtzig Kilometer. Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder wir halten ein Auto an, das uns mitnimmt, und ich laufe den Rest einfach später nach, oder du legst dich hinten auf die Gurke, und ich schiebe.«
    »Schwierig.« Er hat seine Kapuze eng geschnürt, unter der Schlafmaske und der Sonnenbrille schauen nur noch sein Mund und seine Nase hervor. Er grinst. »Du schiebst mich also herum?«
    »Ja.«
    »Ich liege nur da und muss nichts machen?«
    »Ja.«
    »Super! Ob ich jetzt in Dunhuang im Hotelzimmer liege oder hier, das ist auch egal.«
    Wir haben Gegenwind und Regen. Ruben liegt rücklings auf der Ladefläche der Gurke, die Kabutze ist hinten angebunden. Ich habe das GPS auf dem Lenker befestigt, und während ich uns mit beiden Händen durch den Wind schiebe, starre ich auf den Bildschirm.
    Nach vier Stunden haben wir neun Kilometer geschafft. Ich fühle mich wie ein ausgewrungenes Handtuch. Es war der Plan einer Fleife.
    Ruben lacht unter seiner Verkleidung hervor. Er hat eine bessere Idee.
    Ich laufe neben der Gurke und lenke, Ruben sitzt im Sattel und tritt. Ich sage ihm, wann er schneller treten oder bremsen soll, je nach der Steigung und der Stärke des Windes. Wir klappern flott durch die Wüste.
    Dann fällt die erste der Bremsen ab.
    Dann die zweite.
    Dann dreht sich der Wind.
    Er kommt direkt von hinten und ist so stark, dass er uns viele Steigungen von selbst hinaufschiebt. Immer wieder hänge ich mich an den Lenker, um die Fahrt zu verlangsamen, und manchmal springe ich auch vor die Gurke und stemme mich gegen sie. Dann rutschen meine Schuhe über den Boden, bis wir endlich wieder langsamer sind.
    Dann kommt der Abhang.
    Zuerst sehe ich ihn nicht. Es ist, als würde die Straße an einem bestimmten Punkt einfach in der Luft enden. Der Wind schiebt uns voran, und ich muss große Schritte machen, um mit dem Tempo mitzukommen, Ruben sitzt reglos und blind auf dem Sattel. Und dann sehe ich es: eine kilometerbreite Senke in der Landschaft, durch die die Straße schnurgerade hindurchführt.
    Ich überlege noch, was ich machen soll, als wir bereits Fahrt aufnehmen. Ich versuche zu bremsen, doch es ist schon zu spät.
    Die Entscheidung fällt in einem Augenblick.
    »Mach Platz!«, rufe ich und steige mit einem Bein auf die Mittelstange des Fahrrads. Ich höre Ruben noch protestieren, dann geht die Fahrt los.
    Wir scheppern auf der linken Straßenseite den Abhang hinunter, Ruben hält sich an meiner Jacke fest, der Wind rauscht. Ich sehe auf das GPS: zwanzig Kilometer in der Stunde, und

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