The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
starren, muss ich daran denken, wie fern mir dieser Moment erschienen ist, als ich damals im Herbst die Stadt verließ.
Als ich Ruben zum Flughafen gebracht habe und wieder in die Wohnung komme, sitzt Louise auf dem Sofa.
Wir trinken Tee.
»Kommt dir das alles nicht ein bisschen komisch vor?«, fragt sie nach einer Weile.
»Was meinst du?«
»Na ja, ich stelle es mir schwierig vor, so zwischen den Welten zu sein. Da läufst du durch die Wüste, und jetzt bist du wieder hier. In ein paar Tagen kommt Juli, und was macht ihr dann?«
»Sie nimmt mich mit zu ihren Eltern.«
»Nach Sichuan?« Sie blickt mich skeptisch an. »Wird dir das alles nicht ein bisschen viel?«
Juli kommt mit dem Sonnenschein.
Ich bin pünktlich am Flughafen, in einer neuen Hose und einem frischen Hemd, der Himmel ist nicht mehr bedeckt, sondern erstrahlt in klarem Blau.
Ich sehe sie von Weitem: Sie schiebt einen Gepäckwagen, der neben ihr groß und klobig aussieht, und als sie mich erblickt, strahlt ihr Lächeln durch die Flughafenhalle, und sie kommt auf mich zugelaufen. Ihr Rock hört weit über den Knien auf, und ich frage mich wieder einmal, wie sie es schafft, nach zehn Stunden im Flugzeug auszusehen, als hätte sie gerade frisch geduscht.
Unser Flug zu ihren Eltern in Chengdu geht in vier Tagen. »Zeit genug für dich, um etwas mit deinem Bart und deinen Haaren zu machen«, sagt sie und lacht. Ihre Mutter hat darum gebeten, ob ich vielleicht nicht ganz so wild aussehen könnte wie auf den Fotos.
»Was soll ich machen?«, frage ich Louise.
Sie sagt: »Der Bart ist doch nicht das Wichtigste! Schneid ihnab, oder lass ihn dran, ganz wie du willst. Die Eltern werden dich schon mögen, egal, wie du aussiehst!«
Ich sitze mit Juli im Flugzeug, unter uns zieht China vorbei. Ihr Kopf liegt auf meiner Schulter. Sie schläft. Ich habe versucht, mein Haar mit etwas Gel zu bändigen, trotzdem sehe ich immer noch aus wie ein Wilder.
Louise hat gesagt, ich hätte einen fanatischen Blick.
»Sei gut zu Juli, und betrüg sie nicht mehr«, sagte sie, und als ich nichts antwortete, blickte sie mich scharf an. »Du hast nicht schon wieder etwas gemacht, oder?«
»Nein«, beteuerte ich.
»Gut. Dann hättest du sie auch nicht verdient.«
Am Flughafen von Chengdu blicke ich in Blumenkelche und entsetzte Gesichter. Juli läuft los und umarmt ihre Eltern, zwei kleine, fein gekleidete Leute, die mich anschauen, als hätten sie einen Geist gesehen. Ich bekomme zwei Blumensträuße in den Arm, ihr Duft ist benebelnd.
»Da bist du ja endlich, kleiner Lei«, sagt die Mutter lächelnd, während der Vater mich skeptisch von der Seite ansieht.
Wenige Augenblicke später sitzen wir in einem schwarzen Porsche Cayenne. Er riecht nach Neuwagen.
»Den Wagen haben sich meine Eltern von einem Freund ausgeliehen, extra um uns abzuholen«, erklärt Juli, und ich streiche mit der Hand über das kühle Leder.
»Ich habe noch nie in einem solchen Auto gesessen«, sage ich schließlich, nur um irgendetwas zu sagen.
Der Vater blickt mich im Rückspiegel an, seine Augenbrauen sehen aus wie Klingen. »Unsere Tochter ist in Deutschland, und du läufst in der Gobi herum«, fasst er die Situation zusammen.
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Juli hat mir erzählt, dass ihr Vater einen bestimmten Namen für mich verwendet: der, der da herumläuft. Außerdem musste sie ihm erklären, dass meine Familie keine Bauern sind, nur weil wir nicht in der Stadt wohnen.
»Ich bin schon bis nach Dunhuang gekommen«, sage ich schließlich.
Der Porsche schnurrt gelassen dahin, der Vater guckt zwischen mir und der Straße hin und her, Juli drückt meine Hand.
»Und wie willst du einmal eine Familie ernähren?«, fragt er.
Wir bleiben eine Woche lang in Chengdu. Die Stadt ist grün, feucht und warm, überall sind Leute, es ist laut und duftet nach Essen – ich bin wieder im Süden, nach so langer Zeit.
Die Eltern schenken mir eine Schatulle mit einem polierten Stück Jade. Das Preisschild hängt noch daran, ich schlucke, als ich es sehe. Dann schiebe ich mein Geschenk über den Tisch: Es ist die Plastiktüte mit den Melonenstreifen aus Guazhou. Ihr Rascheln ist mir plötzlich etwas peinlich.
Ich sage: »Diese Melonen sind die süßesten, ich habe sie im Land der Melonen gekauft und über hundert Kilometer zu Fuß transportiert!«
Die Mutter nimmt vorsichtig ein Stück, lächelt und sagt höflich: »Lecker.«
Der Vater rümpft die Nase, er mag keine Süßigkeiten.
Eine
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