The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Woche lang werden wir bei Familienessen herumgereicht. Jedes Mal rage ich haushoch über alle anderen empor, ich fühle mich wie ein haariges Tier aus dem Permafrost, ein Säbelzahntiger, ein Mammut.
Bei unserem ersten Essen kommen Juli und ich zu spät. Es ist ein runder Tisch im Separee eines Restaurants, ein Dutzend Leute warten auf uns, alle sehen mich aufmerksam an. Ich wünsche mich in die Wüste zurück.
»Das ist der Mitschüler unserer Tochter«, stellt mich der Vater vor, doch Juli greift nach meiner Hand und sagt laut: »Das ist nicht mein Mitschüler, das ist mein Freund!«
Betretenes Schweigen. Ich fühle ihre kleine Hand in der meinen, ich würde sie gern mitnehmen in die Wüste.
Zum ersten Mal verspüre ich Scham über das, was ich tue. Das bärtige Herumlaufen. Das Fotografieren. Das tägliche Blogschreiben.
Und trotzdem: Ich schnalle meine Kameras um und streife durch die Stadt. Juli sagt, dass sie versteht, was das Fotografieren mir bedeutet. Während sie sich mit ihren Freundinnen trifft, besuche ich das Standbild von Mao Zedong und den Grabhügel von Liu Bei, dem Anführer der Drei vom Pfirsichhain, und manchmal fühle ich mich dabei ein bisschen so, als wäre ich noch auf meiner Wanderung. Als hätte ich die Dinge noch unter Kontrolle.
Unter meinen Blogeinträgen häufen sich die Kommentare, die mich zurück in die Wüste schicken wollen. Ich ignoriere sie.
»Wollen wir auf die Insel Hainan?«, fragt Juli irgendwann. »Dort ist nicht so viel los.«
Kurze Zeit später stehe ich barfuß an einem weißen Strand, das Meer spielt um meine Zehen. Juli ist neben mir, sie lacht über eine dicke Qualle, die von der Brandung angespült wurde. »Jetzt sind wir allein und können uns endlich einmal entspannen«, sagt sie.
Doch dazu bin ich schon lange nicht mehr in der Lage.
Tagsüber zerre ich sie über die Insel, um Fotos zu machen, nachts werfe ich mich im Schlaf hin und her. Oft habe ich Albträume.
Einmal vergesse ich bei einem Spaziergang, das GPS einzuschalten, um den Weg aufzuzeichnen, und bin den Tränen nahe. Juli guckt mich irritiert an.
Ein anderes Mal sage ich ihr, sie solle an einem Strand kurz auf mich warten, denn ich will den Sonnenuntergang fotografieren. Nach drei Stunden komme ich wieder. Ihre Augen sind schwarz vor Zorn.
Ihre Eltern kommen uns für zwei Tage besuchen. Ich beichte Juli, dass ich mich ein bisschen vor ihrem Vater fürchte. Sie beruhigt mich. Er gebe sich gern ruppiger, als er eigentlich sei. Außerdem möge ihre Mutter mich, und das sei das Wichtigste. Sie lacht: Ob ich wirklich nicht wisse, dass in Sichuan immer die Frauen das Sagen haben?
Einmal bin ich mit dem Vater allein. Wir sitzen uns auf einer Restaurantterrasse gegenüber, Juli und ihre Mutter sind sich die Hände waschen gegangen, im Hintergrund rauscht das Meer. Wir schweigen.
Er blickt mich prüfend an.
»Lass uns einen Schluck trinken«, sagt er und greift zu einer Bierflasche, um mir daraus einzuschenken.
Ich weiß, was das bedeutet.
Xiaohei hat es mir erklärt, bei einem seiner Versuche, mich zum Trinken zu bewegen. »Wenn chinesische Männer sich ernsthaft unterhalten«, sagte er, »dann gehört fast immer Alkohol dazu, egal, ob es darum geht, ein Geschäft abzuschließen oder Freunde zu werden!«
Ich halte die flache Hand über mein Glas.
Der Vater blickt mich fragend an.
»Ich trinke nie«, sage ich und fange an zu erklären: dass das Nichttrinken eine Regel ist, so wie es Regeln für das Laufen gibt. Dass ich mich unter Kontrolle behalten möchte. Dass es besser für die Gesundheit ist.
»Nicht so wichtig«, sagt er lächelnd und schenkt mir ein Glas Cola ein.
Der Abschied ist bedrückend. Juli und ich sitzen in der Wartehalle des Flughafens, die Decke ist niedrig und der Boden mit Teppich ausgelegt, die Luft schmeckt so kühl und parfümiert wie in allen Flughäfen. Juli trägt ein geblümtes Kleid und einen Sommerhut.
Ich entschuldige mich dafür, wie alles gelaufen ist.
»Das muss dir nicht leidtun«, sagt sie und streicht mir über die Haare.
»Ich kann nicht anders«, sage ich.
Sie lächelt traurig. »Ich weiß.«
HERBST
DAS FLACKERN IN DEN AUGEN
5. September 2008:
Dunhuang, Westende des Hexi-Korridiors
Dunhuang. Ich komme auf dem Flugplatz an, und der Staub der Gobi hat mich wieder. Im Hotel werde ich gefragt, ob ich zugenommen habe. Ich lache. Ich brauche Körperfett.
Chinesen essen nicht gern aus der Dose. Ich auch nicht, aber unterwegs ist es praktisch. Aus
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