The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
stehen.
Nach vier Tagen erreiche ich Liuyuan. Ein Mann auf einem Motorrad hält mich auf der Straße an. »Ich dachte, du wärst noch viel größer!«, sagt er und lacht. Sein Schwager habe mich in Dunhuang gesehen. Die Nachricht war schneller hier als ich.
Ich muss an die mysteriöse Frau mit dem Esel denken.
Ich bleibe einen Tag lang in der kleinen Siedlung, spaziere durch ihre Straßen und unterhalte mich mit ihren Einwohnern. Es sei keine Oase, sagen sie, die Stadt lebe von Minen und Steinbrüchen in der Umgebung. Das Wasser müsse aus großer Entfernung herangeschafft werden, um Liuyuan am Leben zu erhalten.
Mir ist das egal. Ich setze mich am Bahnhof in den Schatten und blicke über den Bahnhofsplatz. Ich lese die Schilder, die für Essen und Gästezimmer werben, sehe die Rentner, die im Schatten sitzen und sich unterhalten, und einen Moment lang frageich mich, ob ich weinen werde, wenn ich China irgendwann wirklich verlasse.
Als ich am nächsten Morgen die Landstraße betrete, bin ich nicht mehr allein. Ein Mann steht an einer Ecke und wartet auf mich. Er trägt schwarze Kleidung, sein Gesichtsausdruck hat etwas eigentümlich Verbissenes.
»Ich komme mit dir, deutscher Freund«, verkündet er mit einem starken Akzent. Er heißt Jakub, ist Uigure und Lastwagenfahrer aus Hami. Er will mit mir durch die Wüste.
Ich blicke auf seine Füße: schwarze Lederschuhe. Die Sonne sticht mit jedem ihrer Strahlen. Ich habe die Kabutze mit Vorräten gefüllt, genug für mehr als eine Woche. Jakub hat nichts als die Kleidung an seinem Leib.
Sein Ziel ist die Stadt Hami, sagt er, dreihundert Kilometer entfernt. Er wird mit mir mitlaufen, und wenn er irgendwann müde ist, hält er einfach einen Lkw an.
»Die Fahrer sind alle meine Freunde!«, tönt er.
Dann laufen wir in die sengende Wüste hinein.
Er kommt mir merkwürdig vor, dieser Mann. Was sucht er hier draußen? Was will er von mir?
Als ich anhalte, um etwas zu trinken, biete ich ihm eine Wasserflasche an. Er lehnt ab. Es ist Ramadan, er wird erst nach Sonnenuntergang wieder essen und trinken. Ich blicke auf das GPS: Es ist kurz nach zehn, wir sind mitten in der Wüste, die Sonne brennt heiß. Meine Zunge klebt am Gaumen, der Geschmack in meinem Mund ist trocken und widerlich.
Ich nehme hastig ein paar Schlucke aus der Flasche, dann stecke ich sie wieder in die Kabutze zurück. Eigentlich wollte ich noch etwas essen, aber ich verkneife es mir. Auch die Kameras nehme ich nur selten hervor. Ich kenne diesen Mann überhaupt nicht, und wir sind ganz allein.
Wir laufen durch die Wüste. Er scheint weder Hunger, Durst noch Müdigkeit zu verspüren, aber er redet gern.
Davon, dass er nach Russland will. Davon, dass das Leben in China für die Uighuren zu beschwerlich ist. Von der Kupfermine, in die seine Familie investiert hat, nur um festzustellen, dass es in ihr nicht genug Metall gab, um es gewinnbringend abzubauen. Von seiner Arbeit als Lkw-Fahrer, die anstrengend ist und schlecht bezahlt wird.
»In Russland ist das alles anders«, sagt er, »oder in der Türkei! Aber hier in China ist das Leben nicht schön.«
Einmal zeigt er auf zwei Staubfahnen in der Ferne und sagt: »Das sind auch Laster.«
Ich frage, warum sie nicht auf der Straße fahren, und er blickt mich verwundert an. »Mautgebühren sparen! Polizeikontrollen umfahren!«
»Ist das nicht gefährlich?«
»Ja, manche sterben bei dem Versuch. Sie bleiben im Sand stecken und haben nicht genug Vorräte dabei. Am Schlimmsten ist es im Winter, dann wird es hier mehr als dreißig Grad unter null, und jedes Jahr finden sie Erfrorene.« Er lacht: »Uns Uighuren passiert so etwas aber nicht. Das sind alles Han-Chinesen, die kennen sich hier nicht aus!«
Ich erinnere mich an Tibet, an den Stolz seiner Einwohner darauf, dass viele Fremde die Höhe nicht vertragen und sich mit Kopfschmerzen ins Bett legen müssen, während es den Tibetern nichts ausmacht.
Jakub läuft neben mir her und redet ohne Unterlass. Es geht immer wieder um das Dasein als Uigure. Ich erfahre, dass ein Uigure immer gastfreundlicher ist als ein Han und dass einem Hui nicht zu trauen ist.
»Die sind weder das eine noch das andere, und je nachdem, wen sie vor sich haben, zeigen sie immer ein anderes Gesicht!«, schimpft er empört. »Die meisten von ihnen halten sich noch nicht einmal an den Ramadan! Guck mich an: Mein Chef hat schon versucht, mir an heißen Tagen zumindest Trinken vorzuschreiben, aber das geht für mich nicht.«
Ich
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