The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
verzieht sein Gesicht zu einem Grinsen. Früher bewachte er eine Mine in den Bergen, die noch nicht einmal an das Straßennetz angeschlossen war.
Ich trinke meinen Tee, dann bringt mich mein Gastgeber zu einer der Baracken. Die Hunde bellen wütend, als ich vorübergehe. In dem Raum stehen ein Bettgestell und ein Tisch. Er stellt eine Flasche mit einer Kerze darin auf den Tisch. »Licht!«, presst er heraus, dann drückt er mir eine Kanne heißes Wasser und eine Tütensuppe in die Hand und winkt zum Abschied.
Ich schaue mir die Tütensuppe an: Es ist eine Marke, die ich noch nie gesehen habe, und sie ist schon seit Monaten abgelaufen. Er muss sie lange aufbewahrt haben.
In dieser Nacht werde ich von einer Maus zur Weißglut getrieben. Sie wartet, bis ich die Kerze ausgeblasen habe, dann kommt sie aus ihrem Loch hervor, flitzt über den Tisch und frisst meine Kekse an. Ich schalte meine Stirnlampe an und sehe sie gerade noch in der Dunkelheit verschwinden. Zu meinem Unglück findet sie eine Plastikverpackung und veranstaltet damit ein gewaltiges Spektakel.
Mein Handy hat fast keinen Strom mehr, und ich habe vergessen, den Ersatzakku aufzuladen. Ich schicke Juli eine Nachricht, in der ich ihr von der Maus erzähle, dann starre ich eine Weile das blaue Leuchten des Displays an, bevor ich es abschalte. Die Maus raschelt hysterisch mit ihrem Plastik herum. Ich überlege, ob ich sie in einer durchgeschnittenen Flasche fangen soll, wie Lehrer Xie es mir erklärt hat. Über diesem Gedanken schlafe ich ein.
Am nächsten Morgen stehe ich mit einem Cent in der Hand in der Küchenbaracke. Ich überreiche ihn Herrn Niu als Andenken, es ist das letzte europäische Geldstück, das ich noch bei mir habe. Er nimmt die winzige Münze mit beiden Händen entgegen, ich kann sehen, wie er sich freut.
Dann fällt mein Blick auf den Dicken. Er sitzt wieder in seiner Ecke und feuert eifersüchtige Blicke ab.
Ich krame in meiner Tasche, doch ich finde nichts, nur eine meiner Visitenkarten.
»Gib dies bitte deinem Freund«, sage ich zu Herrn Niu.
Er blickt mich irritiert an. »Das ist nicht mein Freund.«
Wir sind in der Küchenbaracke der alten Mine, es ist staubig und dunkel, der Dicke sitzt in der Ecke, und Herr Niu steht vor mir wie ein Hüne.
»Komm mit«, sage ich zu ihm, und wir treten nach draußen in das gleißende Licht des Tages. Die Luft schmeckt trocken, es ist heiß. Ich höre einen der Hunde knurren.
»Wenn der Mann nicht dein Freund ist, was ist er dann?«, frage ich.
»Ein Kollege.«
Die Antwort auf die nächste Frage weiß ich, bevor ich sie ihm stelle.
»Ihr beide mögt einander nicht, oder?«
In seinem Gesicht arbeitet es, seine Kiefer mahlen, seine Augen sehen angestrengt aus. Dann presst er die Antwort hervor, es ist eine Wiederholung meiner Worte: »Nein, wir mögen einander nicht.«
Ich denke lange über ihn nach, diesen riesigen Mann, der mit den Hunden und dem Kollegen, den er nicht mag, in der Wüste ausharrt und die alte Mine bewacht.
Die Straße steigt an. Manchmal führt sie durch offene Wüstenabschnitte, manchmal durch Felsen. Ich sehe Kamele am Straßenrand und Raubvögel, die reglos am Himmel schweben und in die Wüste hinabstarren.
Ich fühle mich winzig.
Die Kabutze rollt hinter mir her, meine Füße schmerzen ein bisschen. Kurz nach Dunhuang haben sie geblutet, jetzt sind sie fast wieder verheilt. Der Akku meines Handys ist endgültig leer, ich habe keine Musik und vor allem keine Nachricht von Juli. Es ist heiß, ich bin müde.
Ich laufe und laufe, meine Schritte tragen mich über die schwarzen Berge hinüber, aus der Provinz Gansu hinaus und nach Xinjiang hinein. Es ist ein langer Tag, und irgendwann erreiche ich endlich den Pass von Xingxingxia, die berühmte »Sternenschlucht«.
Das Erste, was mir auffällt, sind die Graffiti an den Felswänden: Daten, Namen, Nummernschilder, dazwischen Kritzeleien von Brüsten und Hintern. An einer Stelle steht »Ich vermisse dich«, daneben das Wort »Frau« und zur besseren Verständlichkeit die Zeichnung eines Pimmels.
Auf beiden Seiten der Straße, an den höchsten Punkten der Felsen, sehe ich Ruinen von Befestigungen, verfallene Türmchen und Schießscharten. Ich muss an die Lehmburgen in den Bergen von Pingliang denken, an die Bauern, die sich früher darin gegen die Banditen und den Krieg zu schützen versuchten.
Der Nordwesten von China war zu Anfang des letzten Jahrhunderts ein einziges Chaos: Die Dynastie im fernen Beijing war
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