The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
und zieht die Tür hinter sich zu. Der Laster röhrt auf, setzt sich in Bewegung und poltert über die Straße. Ich blicke ihm hinterher.
Dann ziehe ich die Kabutze langsam in die Wüste hinein. Ich finde einen guten, windstillen Ort, schlage das Zelt auf und stelle einen Hocker davor, und weil ich so furchtbar großen Hunger habe, öffne ich eine Dose Bohnen und eine Dose Mais und schaufele sie innerhalb von wenigen Momenten in mich hinein.
Ich habe mich gerade in das Zelt gelegt, da beginnt das Ziehen. Es kommt aus der Mitte meines Körpers, ein Reißen und Stechen in den Eingeweiden, das mir eine Gänsehaut auf dem Rücken macht und mich schüttelt.
Es müssen die Bohnen gewesen sein, denke ich und krieche in die finstere Nacht hinaus.
Die Wüste ist still. Ich gehe vor dem Zelt auf und ab, blicke in das Funkeln des Sternenhimmels, und als die Schmerzen nicht aufhören, lege ich mich mit dem Oberkörper über den Hocker und stecke mir zwei Finger in den Hals. Es kommt nichts.
Während ich allein in der Wüstennacht würge und huste, denke ich an Mama.
KOLLEGEN
Es ist eine Nacht ohne Schlaf. Am Morgen quäle ich mich aus dem Zelt, schalte das Handy ein und sehe, dass Juli versucht hat, mich zu erreichen. Neunzehnmal. Ich versuche, sie zurückzurufen, aber ihr Telefon ist aus.
Ich trinke etwas Wasser, packe die Sachen zusammen und zerre die Kabutze zur Straße zurück. Die Schmerzen in meinem Bauch haben nachgelassen, aber die Wüstenstraße ist still und weit, und ich mache mir Sorgen um Juli. Nach einer Weile kommt eine SMS von ihr: Alles in Ordnung, ich hoffe, bei Dir auch.
Ich laufe, bis es Mittag wird, dann lege ich mich mit dem Kopf in den Schatten der Kabutze und döse ein. Es ist heiß, ich habe wirre Träume. Einmal sehe ich die Felswände von beiden Seiten der Straße auf mich zukommen. Ich schrecke hoch und stoße mir den Kopf an der Kabutze. Ich spüre den heißen Hauch der Wüste auf meiner Haut und versuche erneut, Juli anzurufen, doch ihr Telefon ist nach wie vor ausgeschaltet.
Abends komme ich an den Ruinen einer Siedlung vorbei. Ein halbes Dutzend Baracken, die verfallen in der Wüste stehen. Ich stehe auf der Straße, blicke über sie hinweg und frage mich, wann zum letzten Mal Menschen hier draußen gelebt habenkönnten.
Dann höre ich ein schwaches Rufen im Wind. Ein Mann kommt aus einem der Häuser gelaufen und winkt nach mir.
Ich hebe die Hand und winke zurück, drehe mich um und gehe weiter. Der Ort ist mir unheimlich. Die Wüste, die Ruinen, die Stimme des Mannes hinter mir. »Komm her!«, ruft er.
Ich denke an Jakub und daran, wie man sich täuschen kann. Ich bleibe stehen. Die Abendsonne liegt über der Wüste. Der Mann ist mir entgegengelaufen, er winkt mit beiden Armen. Ich verlasse die Straße und gehe in Richtung der verfallenen Häuser, auf den rufenden Mann zu.
»Wir sind zu zweit hier, mein Kollege und ich«, sagt Herr Niu und gießt mir einen Becher Tee ein. Er lächelt, oder vielmehr, er versucht es. Seine Gesichtszüge gehorchen ihm oft nicht, und auch das Reden fällt ihm schwer. Stotternd und mit verzerrtem Gesicht kämpft er um jedes Wort, und wenn es nicht klappt, sieht man, wie unglücklich er darüber ist.
Ich mag ihn, diesen Herrn Niu.
Er hat die Statur eines Hünen, mächtige Schultern und gewaltige Hände, und dabei ist er so sanft und freundlich wie die Standbilder der Gottheit Guanyin, die in den Tempeln des Landesinneren ruhen.
»Wir passen auf die alte Goldmine auf«, erklärt er, »und du bist unser Gast!«
Dutzende von Arbeitern wohnten einst hier und gruben nach Gold, bis es sich nicht mehr lohnte. Heute zeugen nur noch die verfallenen Baracken von ihnen und die Scherben der Bierflaschen, die unter jedem meiner Schritte knirschen.
Als ich wissen will, was es eigentlich genau ist, auf das sie aufpassen, blickt Herr Niu mich an, als hätte ich eine sehr dumme Frage gestellt. »Hier darf doch nichts wegkommen!«
Ich nicke, ohne zu verstehen, was er meint.
Sein Kollege ist griesgrämig und dick. Er sitzt wortlos in einer Ecke und starrt zu uns herüber, während Herr Niu mir erklärt,was sie hier machen.
Die beiden bewachen die Mine, jeder in einer Baracke mit einem gewaltigen Hund, sie haben Wasser, aber keinen Strom, einmal in der Woche kommt eine Lieferung mit Essen. Im Sommer wird es vierzig Grad warm, im Winter minus dreißig. Die nächsten Menschen sind viele Kilometer weit weg.
»Hier ist es besser als anderswo«, sagt Herr Niu und
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