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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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gestürzt, die Republik zerbrochen, Tibeter, Mongolen, Kasachen, Kirgisen, Uighuren, Nationalisten, Kommunisten, russische und japanische Agenten waren in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt. Die chinesischen Gouverneure, die die Ordnung hätten wahren sollen, waren für ihre Unfähigkeit und Grausamkeit bekannt; man erzählte sich von einem Bankett in Ürümqi, zu dem Gäste eingeladen worden waren, nur um sie anschließend zu köpfen.
    Am gefährlichsten waren jedoch die Hui-Chinesen. Ihre Generäle waren ebenso gut ausgebildet wie brutal, und ihre Soldaten waren dafür bekannt, dass sie sich im Zweifel eher umbrachten, als zu kapitulieren.
    Einmal fielen ihnen die Kommunisten in die Hände. Es war im Winter 1936. Maos Genossen hatten das Liupan-Gebirge überquert und ihre Basis in Nordshaanxi bezogen, der Lange Marsch war abgeschlossen. Man entschied, einen Truppenteil nach Xinjiang zu schicken, um dort mit den Sowjets Kontakt aufzunehmen – die Westroutenarmee. Mehr als zwanzigtausend Mann machten sich auf den Weg durch den Hexi-Korridor.
    Doch sie kamen nie an.
    Monate später wurden in den Bergen von Xingxingxia ein paar Hundert herumirrende Gestalten aufgelesen – der armselige Rest der Expedition. Tausende waren umgekommen. Die Wüste und die Wut der Hui-Krieger hatten das geschafft, was alle Entbehrungen des Langen Marsches zuvor nicht vermocht hatten: Sie hatten eine Streitmacht der Kommunisten am Fortkommen gehindert und dabei nahezu vollständig ausgelöscht.
    Ich gehe durch die Gasse der Felswände, die Graffiti ziehen an mir vorbei. Ich versuche mir vorzustellen, wie sich die Soldaten bei ihrem Marsch vor siebzig Jahren wohl gefühlt haben mögen, doch es gelingt mir nicht. Ein Laster fährt dröhnend vorbei, die Luft bebt. Ich halte an und nehme einen Schluck Wasser. Und dann sehe ich sie wirklich: die Sternenschlucht.
    Sie ist nicht so romantisch wie ihr Name. Ein paar Dutzend niedrige Häuser, eine Tankstelle, ein Verwaltungsgebäude. Ein dicker Mann in Uniform steht davor in der Sonne und strahlt mich an. »Auch ein Fotograf?«
    Er heißt Abdu und ist zuständig für die Inspektion der Lkw. Wenn Frachtfahrzeuge in Xingxingxia ankommen, werden sie auf das Gewicht und den Inhalt ihrer Ladung geprüft. »Hygieneinspektion«, sagt er.
    Abdu liebt Fotografie. Er nutzt jede freie Minute, um mit seiner Digitalkamera in die Natur zu fahren. Als er hört, dass ich an der Filmakademie in Beijing studiert habe und dort einen uighurischen Freund namens Abu habe, zückt er begeistert sein Handy, und einen Moment später höre ich tatsächlich AbusStimme. Keiner von uns kann so richtig glauben, dass ich mitten in der Wüste an einen Verwandten von ihm geraten bin.
    Er begleitet mich zu einem Gasthaus und bringt mich in einem Zimmer unter. Es ist still, einfach und sauber, wie meine Vorstellung von einer Mönchsklause. Es gibt keine Dusche. Die Leute fahren dafür nach Hami, nur die wenigsten Einwohner von Xingxingxia wohnen dauerhaft hier oben.
    Ich wasche mich mit einem Lappen, dann lasse ich mich auf das Bett fallen. Das Handy steckt am Strom, ich habe eine Nachricht von Juli: Sie ist wieder in München und hat viel zu tun, sie hofft, es geht mir gut. Es hört sich gestresst an. Außerdem ist da noch eine SMS von Lehrer Xie: Er ist auf dem Rückweg und hat Hami gerade verlassen. Er kommt mir auf der Wüstenstraße entgegen. Wann treffen wir uns?
    Ich klappe den Laptop auf, lese meine Bilder aus der Kamera ein, schreibe lange Blogeinträge über die letzten Tage. Dann überlege ich, ob ich mich nach draußen setzen soll, um in meinem Buch zu lesen. Ich entscheide mich dagegen. Stattdessen bleibe ich auf dem Bett liegen und spiele gegen den Computer »Defense of the Ancients«, eigentlich ein sinnloses Unterfangen ohne Internet und Mitspieler. Während auf dem Bildschirm die Figuren miteinander kämpfen, denke ich an die Felswände. Und die Graffiti. Irgendwann schlafe ich ein.
    Am Morgen treffe ich Abdu. Er sitzt in der Sonne, und sein Gesicht sieht aus wie das eines Königs.
    »Abdu«, rufe ich, »ich brauche Farbe, am besten eine Sprühdose!«
    Er grinst mich vergnügt an und winkt mit dem Zeigefinger. »Ich weiß, was du vorhast!«

MOTOCROSS
    Als ich mich am nächsten Tag bereitmache, um Xingxingxia zu verlassen, sind seine Felswände um eine nicht gerade kleine Verzierung reicher: »2008-9-16. Zu Fuß von Beijing bis nach Bad Nenndorf«, steht da auf Englisch und Chinesisch. Ich habe mehrere

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