The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
es doch wäre, abends einen Ausblick über das Land zu haben. Also hieve ich meine Sachen auf den Hügel hinauf.
Es ist still.
Ich räume ein paar Steine zur Seite und stelle das Zelt auf, dann setze ich mich auf meinen Hocker und gieße Wasser in eine Schüssel. Die Dämmerung bricht über die Wüste herein. Ich stelle meine Füße ins kühle Wasser.
Das Zelt raschelt. Es ist der Wind, der sich erhoben hat.
Ich überlege, ob ich alles wieder einpacken und den Hügel hinuntertragen soll, bevor es zu dunkel wird. Dann entscheide ich mich dagegen.
Was soll schon passieren?
Ich stelle die Kabutze auf dem Hering ab, der die Hauptlastträgt. Der östliche Horizont wird bereits finster, im Westen ist noch ein blasser Schein zu sehen. Ich schalte meine Stirnlampe ein, setze mich in den Zelteingang und mache eine Dose auf.
Es gibt kalte Bohnen in Tomatensauce. Der Wind wird stärker, aus seinem Fauchen wird ein Tosen, die Zeltwände wackeln unter seinen Schlägen. Ich blicke hinaus in die rasch hereinbrechende Dunkelheit, kann die Lichter eines Autos auf der Straße unter mir sehen, darüber die blasse Scheibe des Mondes. Das Zelt ächzt und bebt. Ich esse Bohnen und mache mir Sorgen.
Ich verstehe erst, was für ein großer Fehler es war, hier oben zu campieren, als ich die leere Dose aus dem Zelteingang nach draußen werfe. Sie verlässt meine Hand und fliegt, doch bevor sie den Boden berühren kann, wird sie vom Wind erfasst und in die Dunkelheit fortgerissen. Ich horche nach draußen, doch da sind nur das Heulen des Windes und sein Peitschen in den Zeltwänden.
Es ist zu spät, das Lager abzubrechen. Ich krieche im Wind herum und suche größere Steine zusammen, die ich auf die Heringe lege und gegen die Kabutze stemme. Dann rolle ich mich in meinem Schlafsack zusammen und versuche, keine Angst zu haben.
Das Zelt duckt sich, es liegt fast flach über mir. Ich schalte das Handy ein und tippe eine Nachricht an Juli. Sie besteht aus drei Schriftzeichen für »Ich habe Angst«. Ich drücke nicht auf Senden.
In dieser Nacht wälze ich mich herum und schrecke immer wieder aus wirren Träumen hervor. Einmal sehe ich mein Zelt auf einem Hügel stehen. Motorräder fahren darum herum, der Hügel ist Teil einer Motocross-Strecke. Ich liege oben im Zelt, die Maschinen springen immer wieder röhrend über mich hinweg, und ich weiß, dass sie mich früher oder später zermalmen werden. Doch ich wehre mich nicht. Ich breite die Arme aus und rufe sie herbei. Sie sollen endlich kommen, um es zu beenden.
Der Sturm peitscht, die Motorräder dröhnen. Für einen Moment bin ich orientierungslos. Ich liege in der Mitte des Zeltesin meinem Schlafsack, den Körper zusammengerollt, das Gesicht in einem Gepäckhaufen vergraben. Die Zeltwände klatschen auf und nieder und überdecken mit ihrem Lärm mein leises Wimmern.
DURCH DAS KÖNIGREICH
Als es wieder hell wird, winde ich mich nach draußen. Der Wind hat ein bisschen nachgelassen, trotzdem sind die Zeltleinen immer noch straff gespannt. Die Kabutze steht noch an ihrem Platz.
Ich blicke mich um: rötliches Gestein, so weit das Auge reicht. Die Straße ist leer. Ich suche die Dose, die ich gestern aus dem Zelt geworfen habe, kann sie aber nicht mehr finden. Der Sturm muss sie fortgetragen haben.
Mit einer Eskorte komme ich in Hami an: ein Dutzend kleiner Jungen, die neben mir herlaufen und laut johlen. Abdu ist da, er hat ein Hotelzimmer für mich reserviert.
Ich bin zu müde, um zu duschen oder zu essen. Ich lasse mich auf das Bett fallen, sehe das Weiß der Wäsche näher kommen, während ich falle, und noch bevor ich merke, dass ich liege, bin ich bereits eingeschlafen.
Am nächsten Tag führt mich Abdu durch die Stadt. Er hat eine schicke Umhängetasche, in der er seine Kamera aufbewahrt, und er fährt ein Moped, das ein bisschen zu klein für ihn aussieht. Als wir aufbrechen, drückt er mir einen Helm in die Hand und grinst breit. Dann knattern wir los.
Hami ist eine Oase. Ich sehe Baumwollfelder und Traubenranken, Frauen mit bunten Kopftüchern und bärtige Männer, die unter Baldachinen sitzen und Fladenbrote verkaufen.
»Diese Brote heißen Nang«, sagt Abdu, und er lächelt, als ich ihm sage, dass mich ihr Geschmack an daheim erinnert.
»Warum bist du überhaupt weggegangen von zu Hause?«, fragt er. Wir sitzen in einem Café, vor mir stehen eine Schüssel hausgemachtes Eis, ein Stück Walnusskuchen, eine Schale Joghurt. Er ist vor Stolz rot geworden, als ich ihm die
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