The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Wahrheit über diese Süßspeisen gesagt habe: dass sie die besten sind, die ich in ganz China gegessen habe. Er selbst isst nichts, und die Bedienung weist er mit ausgestrecktem Arm von sich. Es ist Ramadan.
»Vermisst du deine Familie nicht?«, fragt er.
Ich überlege. Dann schüttele ich den Kopf. »Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht nach Hause.«
»Warum nicht?«
Ich denke an die Regeln des Laufens, und ich bin mir nicht sicher, wie ich es erklären soll.
»Mein Platz ist heute hier », sage ich schließlich, »und morgen ist er anderswo.«
Er lächelt und wiegt bedächtig den Kopf. »Heute bist du mein Gast im alten Königreich von Hami!«
Hami war tatsächlich einst ein Königreich. Vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts bis 1930 wurde es von einem uighurischen Herrscherhaus regiert. Es war eine Herrschaft von Chinas Gnaden: Der Kaiserhof in Beijing ließ die Könige von Hami weitgehend gewähren, solange sie alle paar Jahre kamen, um ihren Tribut zu entrichten.
Doch 1911 fiel die Qing-Dynastie, es kam zur Gründung der Republik und zu ihrer Zerrüttung, und in den Wirren der nächsten Jahre ging das Königshaus von Hami unter. Schon 1936, mitten im Bürgerkrieg, als die Westroutenarmee der Kommunisten ihre Waffen schulterte, um ihrer Vernichtung durch die Hui entgegenzulaufen, war vom einstigen Königreich Hami nur noch ein Mausoleum übrig.
Es steht heute noch da, und es ist dafür berühmt, dass es chinesische, islamische, mongolische und mandschurische Baustile insich vereint. Als wir ankommen, breitet Abdu die Arme aus und atmet tief ein, und mir scheint, als ob sein Gang noch an Würde zugenommen hat.
»Was fühlst du?«, fragt er, und ich antworte, dass es überwältigend ist: die Ornamente, die Holzsäulen, die schlanken Türme, die Stille.
»Dies ist mein Zuhause«, sagt er. Und während ich ihn anblicke, wird mir klar, dass es stimmt, was er mir im Café erzählt hat: Er hat zwar im Inland studiert, in Xi’an, aber ihm war immer klar, dass er nach Xinjiang zurückkehren würde. »An einen der schönsten Orte der Welt«, sagt er und lächelt.
Die Räder der Kabutze sind zerstört. Sie haben das Geröll auf der Wüstenstraße nicht vertragen und sind platt und verbogen.
Wir finden eine Fahrradwerkstatt, die sie gegen Mountainbike-Reifen austauschen kann, aber der Preis ist nicht besonders gut. Ich verhandele halbherzig, dann erkläre ich dem Mechaniker, dass ich bereit bin zu zahlen, wenn er mir dafür garantiert, dass die neuen Reifen auch halten.
»Ich mache meine Arbeit immer gut«, sagt er, ohne aufzublicken.
»Ich will damit noch durch die Wüste.«
Er nickt und hantiert mit seinen Werkzeugen herum.
Am nächsten Morgen ist die Kabutze wieder kaputt. Ich bin noch nicht einmal bis zum Stadtrand von Hami gekommen, als sie anfängt zu eiern. Es sind die Speichen der neuen Räder, sie sind locker. Ich fummele eine Weile fruchtlos daran herum, dann finde ich eine Straßenwerkstatt, in der ein alter Mann ein Werkzeug hervorzieht und damit geduldig jede einzelne der Speichen nachzieht.
Es ist spät am Nachmittag, als ich endlich wieder auf der Landstraße bin. In der Ferne erhebt sich eine schwarze Rauchwolke aus dem Boden. Abdu hat mir davon erzählt: die Ölstadt von Tuha.
Tuha steht für das Ölförderprojekt um die Städte Turpan und Hami. Die Ölstadt ist ein künstlich angelegtes Quadrat in der Wüste, sie besteht aus Parks, Straßen und Häusern, in denen die Angestellten leben.
Ich nehme mir ein Zimmer im Gasthaus der Ölförderungsgesellschaft, setze mich ans Fenster und trinke eine Dose von Abdus geliebter »Zamzam«-Cola. Lebensmittel aus uighurischer Produktion könne man bedenkenlos kaufen, hat er gesagt. Uighuren seien ehrliche Leute, bei Sachen aus dem chaotischen Inland müsse man jedoch vorsichtig sein. Es war klar, worauf er anspielte, das ganze Land war seit Wochen in heller Aufregung über einen Lebensmittelskandal: An chemisch aufbereitetem Milchpulver einer Firma aus Shijiazhuang waren mehrere Säuglinge gestorben.
Ich rufe Juli an. Sie macht mit ihren Eltern eine Reise durch Europa und ist nur schwer zu erreichen. Es klingelt, dann höre ich ein Klicken und ihre Stimme. Sie hört sich müde an.
»Hast du schon getanzt?«, fragt sie.
Ich erzähle ihr, dass es leider erst morgen so weit sein wird. Ich brauche noch vier Kilometer, dann habe ich die Viertausend.
»Oh«, sagt sie. Wir telefonieren nicht lange.
Am nächsten Tag laufe ich meine vier
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