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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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Straße gelaufen und reicht mir eine Tüte Rosinen. Die Kabutze läuft halbwegs rund, ich bin noch nicht sehr müde.
    Aber etwas ist anders.
    Vielleicht ist es eine Färbung des Himmels. Ein Lichtschein in einem Fenster. Oder der Geruch, den ich anfangs kaum wahrnehme. Er wird stärker. Ich laufe und blicke mich um, und während ich noch überlege, wo er herkommt, füllt er mich aus und trägt mich davon.
    Er erinnert mich an eine Zeit, als ich noch klein war. So klein, dass man mich nach einer langen Autofahrt ins Haus tragen konnte, knarrende Treppenstufen hinauf, an flüsternden Verwandten vorbei, die Augen fest geschlossen. Ich musste nichts sehen, um das Haus meiner Oma zu erkennen. Es hatte einen unverwechselbaren Geruch nach Holz, nach Stoff und nach Büchern. Wenn ich im Bett lag und vorsichtig die Lider öffnete, sah ich an der Wand das Bild mit der Ziege, das ich gleichzeitig fürchtete und gern hatte.
    Hier draußen ist der gleiche, seit Jahren vergessene Geruch.
    Ich laufe durch das Dorf, spüre etwas in mir schwerer werden, und meine Schritte werden langsamer, und ich denke an Mama und an das Bild von der Ziege. Es war ein Chagall, und das Bild hieß »Ich und das Dorf«.
    Hinter einem Stück Wüste liegt die Kohlemine von Sandaoling. Davor ist ein Bahnübergang. Ich höre ein lang gezogenes Pfeifen und sehe eine Dampflok, die eine lange Reihe Container vorüberzieht. Dann wird die Straße schwarz.
    Am Horizont ragen dunkle Fabriktürme auf, sie erinnern michan die Kohlereviere in den Bergen von Shanxi, an die Atemmasken der Leute und an die Flüsse, die wie Zahnpasta aussahen.
    Ich folge der schwarzen Straße. Die Luft riecht nach Kohlestaub. Und dann sehe ich sie, sie liegt im Gold der Abendsonne: die Mine. Sie ist kein Stollen und kein Schacht, sie ist nicht in den Bergen versteckt wie die Minen von Shanxi. Sie ist offen. Ich blicke über eine rauchende schwarze Schlucht hinweg, die bis zum Horizont reicht. Straßen und Schienen führen in sie hinein, ich sehe schwer beladene Lkw in ihr herumkriechen, sie sehen aus wie Maden in einer tiefen Wunde.
    Sandaoling ist nicht nur eine Mine, sondern auch eine Kleinstadt mit mehreren Zehntausend Einwohnern. Ich gehe in ein Hotel, das den sympathischen Namen »Hotel« trägt. Es ist sehr sauber und sehr günstig, hat einen schnellen Internetzugang und freundliches Personal. Ich ernenne es zum besten Hotel meiner Reise, und die Rezeptionistin lacht: Es ist nicht gewinnorientiert. Es gehört dem Minenbetreiber. Geschäftskunden und Beamte werden hier untergebracht, Touristen kommen nur selten.
    Am nächsten Nachmittag kommt Onkel Shen mit dem Fahrrad aus Ürümqi. Seit unserer Kameraschlacht bei Wuwei haben wir oft telefoniert, er hat mich vor den schwierigeren Stellen des Weges gewarnt und mir eingeschärft, welche kulinarischen Spezialitäten ich auf keinen Fall verpassen dürfe.
    Diesmal kommt er, um mich durch die Gegend der »Windscharten« zu begleiten, die zwischen hier und Ürümqi liegt. Es sind Lücken im Gebirge, durch die die Luft aus dem Norden mit solcher Macht strömt, dass sie manchmal sogar für Laster und Züge gefährlich werden kann. Ich muss daran denken, was Lehrer Xie mir gesagt hat: Ich solle mich vor meinem Starrsinn in Acht nehmen – und vor dem Wind.
    Ich höre Onkel Shens Stimme durch die Eingangshalle des Hotels donnern. Er ruft meinen Namen, die Arme ausgestreckt, eine Schirmmütze auf dem Kopf, und er sieht noch viel mächtiger aus, als ich ihn in Erinnerung habe.
    »Da bist du ja endlich, Junge«, sagt er und drückt mich an sich.
    Wir bleiben einen Tag lang in Sandaoling.
    Jemand hat mir von ewigen Feuern auf dem Grund der Mine erzählt. Onkel Shen findet einen Fahrer, der bereit ist, uns hinunterzubringen. Wir warten auf den Abend, dann fahren wir in die Schlucht hinein. Auf der Buckelpiste kommen uns manchmal Lichter von Baumaschinen entgegen, dann dröhnt es, und die Luft füllt sich mit Staub.
    Unten schaltet der Fahrer die Scheinwerfer aus. Dunkelheit legt sich über uns, und dann sehe ich sie: leuchtende Stellen im Boden und in der Wand. Sie glühen, Flammen schlagen aus ihnen hervor. Es sind Kohleablagerungen, die sich entzündet haben und nicht mehr verlöschen. Sie sehen aus wie Eingänge in die Unterwelt.
    »Pass auf, wo du hintrittst, Junge«, sagt Onkel Shen und greift nach meinem Arm. Wir stehen auf dem Grund der Mine, um uns herum sind Finsternis und Staub. In Hunderten von Metern Entfernung leuchten Lichter von

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