The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
still. Ich höre eine Fliege summen, und mir fällt auf, dass es das erste Mal seit Langem ist. Sie verirren sich nicht nach draußen in die Gobi.
Der Esel schnaubt noch einmal, dann trabt er zu den Pferden zurück und lässt sich neben ihnen auf den Boden fallen.
Es ist, als würde er sagen: »Willkommen in meiner Oase.«
An diesem Abend kämpfen wir uns eine lange Steigung hoch. Ich falle fast um vor Erschöpfung, doch Onkel Shen sagt, dass auf dem höchsten Punkt eine Mautstation sei, bei der wir vielleicht unterkommen können.
Als wir ankommen, ist es finster. Die Mautstation ist in grelles Licht getaucht, dahinter stehen ein paar Baracken. Wir fragen uns durch, Onkel Shen lässt wieder seine Zigarettenschachtel kreisen, und ein paar gemurmelte Worte später haben wir eine Schlafgelegenheit.
Die Baracke ist leer bis auf ein paar Stockbetten. In der Mitte hängt eine Glühbirne. Männer gehen wortlos ein und aus, Onkel Shen zeigt auf zwei Betten, ein oberes und ein unteres, das sind unsere.
Ich rolle meine Isomatte und den Schlafsack auf dem oberen Bett aus, dann gehe ich nach draußen, um mir die Zähne zu putzen. Ein Mann steht über eine Waschschüssel gebeugt. Meine elektrische Zahnbürste kommt mir auf einmal sehr laut vor.
Die Bauarbeiter gehen früh schlafen.
Jemand macht das Licht aus, ich höre noch ein paar leise Worte, dann ist es still.
Bald fängt der Erste an zu schnarchen.
Dann der Zweite.
Dann schallt es so laut durch den Raum, dass mein Bett zu wackeln scheint.
Ich vergrabe den Kopf in meinem Schlafsack, doch es hilft nichts. Sie sind wie Rasenmäher.
Meine Wertsachen liegen neben mir. Ich krame mein Handyhervor, stecke die Kopfhörer in die Ohren. Es ist besser, aber es reicht nicht.
Das Schnarchen zerfrisst die Nacht.
Ich schalte das Handy ein, wähle Mozarts Violinkonzerte. Ich blicke zum Fenster. Es ist mit Zeitungspapier beklebt, von draußen scheint die kühle Beleuchtung der Mautstation herein. Ich höre die Violinen, darüber die Schnarcher. Irgendwann schlafe ich ein.
Ich bin der Letzte, der aufwacht. Meine Kopfhörer haben sich verheddert, ein Kabel hängt mir ins Gesicht. Onkel Shen steht vor mir.
»Wie sieht mein Gesicht aus?«, fragt er.
Die Schwellung ist schlimmer geworden.
Wir gehen nicht sofort los. Onkel Shen macht sich Sorgen wegen des Wetters. Vor uns liegt die erste der beiden Windscharten zwischen hier und Ürümqi, sie ist etwa fünfzig Kilometer lang, und der Himmel hat eine ungute Färbung.
Er spricht mit den Leuten von der Mautstation und blickt missmutig in den Himmel, dann sagt er: »Es wird nicht besser, wenn wir noch länger warten. Wir sollten los!«
Lange, gestreifte Wolken ziehen über uns hinweg. Wir kommen an Verkehrsschildern vorbei, auf denen geblähte Windsäcke abgebildet sind. Unsere Kleidung flattert, und wir sprechen nur selten, denn der Wind ist so laut, dass wir jedes Wort schreien müssen. Manchmal erfassen Stöße überraschend die Kabutze und drohen sie umzuwerfen.
Nach mehreren Stunden sehen wir eine weitere Baracke in der Wüste. Onkel Shen deutet in ihre Richtung und dann auf sein vermummtes Gesicht. Seine Augen sehen erschöpft aus, ich weiß, er fühlt sich nicht gut.
DIE VERANTWORTUNG FÜR DIE SICHERHEIT WIEGT SCHWERER ALS DER BERG TAI SHAN, steht auf der Wand der Baracke, der Boden davor ist mit Scherben übersät. Ein Mann öffnet die Tür und bittet uns herein, er stellt keine Fragen, sondern bringt sofort Tee und Melonenstücke. OnkelShen nimmt vorsichtig sein Tuch ab, sein Gesicht ist rot und zugeschwollen.
Er blickt mich unglücklich an.
»Du musst zum Arzt, Onkel Shen.«
»Ich weiß.«
Unser Abschied ist traurig.
Wir stehen am Straßenrand und warten auf ein Fahrzeug, das ihn und sein Fahrrad in die nächste Stadt mitnehmen kann. Der Wind tobt, es ist zu laut zum Reden. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter. Mir fällt auf, dass ich seit gestern Abend sein mächtiges Lachen nicht mehr gehört habe.
Ein weißer Transporter hält an, es wird kurz über den Preis verhandelt, wir laden das Fahrrad ein, Onkel Shen nimmt auf der Rückbank Platz. Er zieht das Tuch von seinem Gesicht und lächelt müde. »Pass gut auf dich auf, Junge!«, sagt er und drückt meine Hand. Dann ist er weg.
Ich bin allein mit dem Wind und der Straße. In meinem GPS ist ein Punkt markiert, den ich heute erreichen will. Es ist der Rastplatz Hongshankou, ein halbes Dutzend Häuser auf einem Hügel. Bis dorthin sind es noch siebzehn
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