The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Maschinen, sie sehen aus wie Sterne. Ein lang gezogenes Pfeifen schneidet durch die Nacht.
Der Zug.
Ich blicke zu Onkel Shen. Er ist ein schwarzer, breiter Schatten.
»Sag mal«, frage ich, »meinst du, wir können die Dampflok anschauen?«
Am nächsten Morgen stehen wir auf einem Kohleverladeplatz. Onkel Shen hat eine Zigarettenschachtel in der Hand und hält sie rußverschmierten Händen hin, ich grinse freundlich. Worte werden gewechselt, jemand lacht, und schon stehen wir in der Dampflok.
Sie rattert, sie tutet, sie schnauft. Ihr Kessel öffnet sich mit einem Fauchen, ich bekomme eine Schaufel in die Hand und darf sie mit Kohlen füttern. Wir fahren in der Dampflok durch die Wüste, und es ist, als ob uns jeden Moment Indianer oder Banditen überfallen könnten. Ich kann mein Glück kaum fassen.
Onkel Shen macht Fotos und lacht. Er versteht meine Begeisterung nicht, er hat vier Jahrzehnte lang Maschinen wie diese repariert.
Als wir von Sandaoling aufbrechen, ist es windig, und schräger Nieselregen fällt. Onkel Shen klagt über ein angeschwollenes Gefühl in den Wangen, er hat sich mit einem Tuch vermummt. Er rollt auf seinem Fahrrad neben mir her, manchmal singt er laut, und das China-Fähnchen hinten an seinem Gepäckträger flattert im Wind.
Die Gobi nimmt sich Zeit, bevor sie sich uns zeigt. Wir kommen an Werkstätten vorbei, an Gasthäusern und an Tankstellen. In einem Imbiss, in dem drei Frauen arbeiten, essen wir zu Mittag. Wir sind die einzigen Gäste. Das Essen ist nicht besonders gut, aber dafür ist die Unterhaltung lebhaft.
Die drei sind aus dem Süden. Sie sind vor mehreren Jahren hierhergekommen, um Geld zu verdienen, das Geschäft geht mittelmäßig, aber immer noch besser als zu Hause.
»Zu viele Leute dort«, sagen sie, und als wir fertig gegessen haben, heißt es, wir könnten in den Hinterraum gehen, um uns auszuruhen.
»Ausruhen?« Wir gucken einander überrascht an.
Onkel Shen erklärt ihnen, dass wir weitermüssen.
»Nur eine halbe Stunde«, sagen sie augenzwinkernd, und ein vielsagendes Gelächter fliegt durch den Raum.
»Aiya!« , ruft Onkel Shen, als wir wieder im Freien sind. »Du hast verstanden, was die gerade von uns wollten, oder?«
Er lacht mit nach hinten geworfenem Kopf und geschlossenen Augen. Es ist ein gewaltiges Muhahaha-Lachen, das aus dem Inneren einer Kriegstrommel zu kommen scheint, und es hört sich an, als müsste es vom Tianshan-Gebirge am Horizont widerhallen.
Wir gehen hinaus in die Gobi.
Ich erzähle ihm von Juli. »Wenn es dir ernst ist mit deiner Freundin, dann sind die Eltern sehr wichtig«, sagt er, und dannwiederholt er einen Satz, den ich schon oft gehört habe. »Bei euch im Ausland heiraten ein Mann und eine Frau, aber bei uns heiraten immer auch zwei Familien.«
Ich sage: »Oh.«
Dann erzähle ich ihm von dem Treffen mit Julis Eltern.
Als ich fertig bin, schüttelt er lachend den Kopf. »Junge, das war nichts. Das weißt du selbst, oder?«
Ich bleibe still.
»Sei nicht traurig«, tröstet er mich, »jeder hat seine eigenen Probleme. Meine Frau zum Beispiel wollte mich nie mit dem Fahrrad verreisen lassen!«
Sie hielt es für eine gefährliche, dumme Idee, und sie ließ sich nicht vom Gegenteil überzeugen. Also kaufte er sich heimlich ein Fahrrad und fuhr los. Er rief sie an, als er aus der Stadt heraus war, da war er schon auf dem Weg zur kasachischen Grenze.
Auf dem Rückweg holte er sich in einem Schneesturm eine schlimme Erkältung. Deshalb fuhr er nicht direkt nach Hause. Stattdessen kam er bei einem Freund unter, kurierte sich aus, wusch seine Kleidung und polierte sein Fahrrad. Dann erst zeigte er sich mit einer Mischung aus Reue und Stolz seiner Frau.
»War sie nicht sauer?«, frage ich.
Er lacht. »Natürlich war sie sauer! Aber so ist es nun mal. Auch diesmal, wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich erneut die Wohnung aufräumen, die Fenster putzen und die Gardinen waschen.«
Einmal sehen wir die perfekte Oase. Sie liegt in der Gobi wie eine Tropeninsel im Meer. Bäume, hohes Gras, ein Teich, in dem sich der Himmel spiegelt, die Ruine eines alten Wachturms. Es ist wie im Märchen.
Zwei Pferde und ein Esel stehen am Teich im Gras, und als wir uns nähern, kommt der Esel in einer Staubwolke angesprintet und macht kurz vor uns halt. Er lässt einen fahren, dann senkt er den Kopf und scheint uns ignorieren zu wollen. Wir bleibenstehen. Onkel Shen sagt leise: »Beweg dich nicht, Junge, keine Ahnung, was der vorhat!«
Es ist
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