The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
und macht eine weit ausholende Handbewegung, wie von einem Erwachsenen abgeguckt. »Es sah entsetzlich aus!«
»Die Regierung fällt einfach alle Bäume in der Gegend?«
»Mein Vater sagt, das Holz wird an eine Firma verkauft, die daraus Stäbchen oder so etwas herstellt! Ist das nicht furchtbar?«
Ich frage mich, ob das auch für diese einsame Kupferzypresse gilt, die hier so nackt und verletzlich zwischen den Mauern der Wohnhäuser steht, oder ob nicht eher jemand vermeiden möchte, dass sie irgendwann von selbst umfällt. Und eines der Häuser plattmacht.
Aber stimmt es überhaupt, was das Mädchen über die Abholzungen gesagt hat? Als ich wenig später im Hotel auf dem Bett sitze und meine Fotos sortiere, sind da nur Nebelmeere zu sehen,auf denen Personen und Fahrzeuge wie blasses Treibgut zu schweben scheinen. Ich könnte beim besten Willen nicht sagen, ob es in dieser Gegend weniger oder mehr Bäume gibt als anderswo. Die meiste Zeit über war heute die Sicht so schlecht, dass ich kaum ein paar Meter weit gucken konnte und mir manchmal sogar einbildete, den Nebel als Gewicht auf mir spüren zu können.
Den Autofahrern waren die Sichtverhältnisse völlig gleichgültig. Innerhalb weniger Stunden kam ich an vier Unfallstellen vorbei, und jedes Mal sah die Szenerie ähnlich aus: Mitten auf der Straße standen sich mehrere Autowracks gegenüber, und um sie herum waren die Überreste von Stoßstangen, Kühlerhauben und Windschutzscheiben verstreut. Da weder Opfer noch Blutlachen zu sehen waren, vermutete ich, dass sich die Fahrer kurzerhand unter die Schaulustigen gemischt hatten, die mit ratlos herabhängenden Mantelärmeln herumstanden und den Nebel mit dem Murmeln und Raunen ihrer Stimmen erfüllten.
Einmal war es ein Lieferwagen, der sich in einen riesigen Tanklaster verkeilt hatte. Seine Ladung bestand offenbar aus Reissäcken, denn von der verbogenen Tragfläche rieselte es verräterisch herunter. Als ich auf der Seite des Tanks das rot umkreiste Zeichen für »explosiv« erkannte, wechselte ich lieber die Straßenseite. Ich konnte die Schlagzeilen im Panoramateil der Presse bereits vor mir sehen: PUFFREIS-EXPLOSION – DEUTSCHER WANDERER BEI BEIJING GETÖTET!
Ich fülle eine große Plastikschüssel mit warmem Wasser und lasse meine Füße darin versinken. Es kribbelt kurz, dann breitet sich ein wohliges Gefühl von Schwerelosigkeit und Wärme aus. Wie leicht hätte ich heute als Verkehrsopfer am Straßenrand enden können! Dann wäre es auch völlig egal gewesen, ob in Wangdu eine Kupferzypresse gefällt werden soll oder in Baoding etwas Unanständiges passiert ist. Ich beschließe, Juli anzurufen. Wie lange habe ich schon nicht mehr mit ihr telefoniert? Vier Tage?
Die Leitung tutet, es knistert und knackt. Dann höre ich ihre Stimme. »Wei?« , fragt sie lang gezogen.
»Ich bin’s«, sage ich, »ich vermisse dich.«
»Ich vermisse dich auch. Euer blödes München ist schon jetzt viel zu kalt! Wo bist du?«
»In einem kleinen Ort kurz nach Baoding.«
»Bist du im Hotel? Geht die Heizung? Hast du es warm?«
»Ja, alles ist in Ordnung!«
Dann erzähle ich ihr von der Lehmgrube und der Kupferzypresse, von Eselfleischgerichten und von einem mannshohen Berg aus Kohlköpfen, den ich auf dem Markt bestaunt habe. Wir telefonieren bis spät in die Nacht, während der Mond seine Bahn über den Ort Wangdu zieht. Kurz bevor wir auflegen, geben wir einander das Versprechen, uns am Weihnachtstag zu treffen. Ich schlage die alte Stadt Pingyao im Hochland von Shanxi als Treffpunkt vor.
Am nächsten Morgen fasse ich mir an den Kopf, als ich feststelle, dass es noch mindestens fünfhundert Kilometer bis nach Pingyao sind. Wie soll ich auf meinen kaputten Füßen innerhalb nur eines Monats dorthin laufen? Meine Zehen sind zwar durch die Rast in Baoding deutlich besser geworden, dafür habe ich aber eine neue Blase an der Ferse, groß und glänzend wie ein Zwei-Euro-Stück. Ich drücke ein bisschen auf ihr herum, entscheide mich aber dagegen, sie aufzustechen, weil ich dann heute nicht mehr weiterlaufen könnte. Schließlich klappe ich den Laptop zu, packe meine Sachen zusammen und gucke aus dem Fenster: Der Nebel hat sich verzogen. Es ist Zeit aufzubrechen.
Nach ein paar Kilometern auf der Landstraße bleibe ich irritiert vor einer langen Mauer stehen: VERKAUF VON RASSEHUNDEN UND SKORPIONEN, steht da in großen roten Schriftzeichen, und darunter hat jemand einen Deutschen Schäferhund, einen Tibetmastiff, eine
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