The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
wieder herausgelaufen.«
»Und dann?«
»Dann ging die Nächste rein, aber zwei Minuten später war sie auch wieder draußen! Dem ging sein Teil bis über den Bauchnabel!«
»Und was habt ihr dann gemacht?«
»Was sollen wir gemacht haben? Wir sind eine nach der anderen in das Zimmer gegangen, um zu gucken, aber letzten Endes hat er nur einen Tee auf Kosten des Hauses gekriegt und musste wieder gehen.«
Als wir uns nach ein paar Minuten voneinander verabschieden, bemerke ich eine Nachricht von Xiaohei auf meinem Handy: Das Objektiv wird anscheinend heute fertig sein, und er hat vor, es mir so bald wie möglich vorbeizubringen. Am besten soll ich einfach bleiben, wo ich im Moment bin.
Noch zwei zusätzliche Tage im Puff? Ohne meine Füße zu quälen? Super!
DIE HÄLFTE DER BEVÖLKERUNG
»Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig …« Immer wieder versuchen die beiden Schülerinnen neben mir, die Hände der tausendarmigen Gottheit des Mitgefühls zu zählen, aber sie kommen jedes Mal durcheinander.
Die Statue der Göttin ist riesig. Nur wenn man auf ein hohes Holzgeländer steigt, kann man sie zur Gänze bewundern, und ich schätze, dass jede ihrer vielen Hände ungefähr so groß sein muss wie ich. Jetzt zahlt sich aus, dass ich noch in Xinle geblieben bin, um auf mein repariertes Weitwinkelobjektiv zu warten!
Großer Bruder Dong war hocherfreut, als ich ihn bat, mich noch länger bei sich zu beherbergen. Er klatschte in die Hände und machte sofort einen Plan, mich all seinen Freunden und Geschäftspartnern vorzustellen. Also schlurfte ich ihm den Rest des Tages in meinen Badelatschen hinterher und wurde abends vor einem großen Gebäudekomplex abgeladen, der sich als Kunstakademie entpuppte. Lehrerin Li lehrte dort.
Sie empfing mich am Tor, und wir machten einen kleinen Rundgang über das Gelände der Schule.
»In welcher Beziehung stehst du eigentlich zum Großen Bruder Dong?«, fragte ich, als wir vor einem künstlichen See stehen geblieben waren, auf dem bereits eine hauchdünne Eisschicht zu sehen war.
Sie sah mich irritiert an, dann lachte sie. »Mein Vater ist sehr gut mit ihm befreundet! Onkel Dong ist wie Familie für mich!«
Ob sie eine Ahnung davon hatte, was sich hinter der Fassadedes Badehauses tatsächlich abspielte? Ich wagte nicht, sie danach zu fragen, und vielleicht war es ja auch nicht so wichtig. Ich für meinen Teil hatte mich mit der Wohnsituation dort sehr gut arrangiert.
Es gab nur einen einzigen beheizten Waschraum, den ich mir mit den Damen teilte. Um Überraschungen zu vermeiden, rief ich jedes Mal auf dem Weg zum Duschen oder Zähneputzen: »Achtung, ich komme!«, und tatsächlich antwortete einmal eine flötende Stimme aus der Tiefe des Raumes: »Moment, schöner Deutscher!« Wenig später kamen zwei lachende Mädchen mit Handtuch und Badehaube herausgelaufen. Dann hatte ich den Waschraum für mich.
Klack! – der Auslöser meiner Kamera ertönt, und ein Aufpasser wirft mir einen misstrauischen Blick zu. Ich frage mich, was die Gottheit des Mitgefühls wohl von Leuten wie mir halten mag, die tagelang im Puff herumlungern und dann auch noch unerlaubt Fotos von ihr machen. Ihre Statue jedenfalls blickt sanft und verständnisvoll auf die Welt, als wüsste sie nichts von der Komik und der Tragik der Sterblichen.
»In Zhengding solltest du dir etwas Zeit nehmen!«, hatte Lehrerin Li zwar noch gesagt, aber ich war dennoch nicht im Entferntesten darauf vorbereitet, was mich hier alles erwartete: Nur zwei Tagesmärsche von Xinle entfernt, fast schon unter der Smogglocke der gigantischen Industriemetropole Shijiazhuang, liegt diese kleine Stadt, die auf der Karte aussieht wie ein unscheinbarer Vorort. Und doch befinden sich hier mindestens ein halbes Dutzend tausendjähriger Tempel und Pagoden, und im Hof dieses zinnoberroten Klosters von Longxing, das auch die Statue der Gottheit des Mitgefühls beherbergt, gibt es sogar noch eine Steintafel mit einer Inschrift aus der Zeit der Sui-Dynastie.
Ich verlasse den Tempel und suche mir eine Bank im Hof, um einen Apfel zu essen und die Touristen an mir vorbeiziehen zu lassen. Die beidseitig beschriftete Steintafel ist mehr als mannshoch und leuchtet wie Elfenbein in der Sonne. Am oberen Ende ist sie mit verschlungenen Drachen verziert, und ich finde, sie ist in einem erstaunlich guten Zustand, wenn man bedenkt, dass sie bereits im Jahr 586 aus dem Stein gemeißelt wurde, zu einer Zeit, als im fernen Europa gerade die
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