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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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wie groß der Altersunterschied? Im Fall von Herrn Dong und mir ist es eigentlich relativ einfach: Da er ungefähr im Alter meines Vaters ist, müsste ich ihn eigentlich mit »Onkel« ansprechen, um meinen freundschaftlichen Respekt für ihn auszudrücken. Aber andererseits habe ich den Eindruck, dass er gern etwas jünger wäre, als er ist.
    »Großer Bruder Dong«, sage ich also, als wäre er mein Snowboard fahrender Kumpel Xiaohei. Dann lege ich mir eine wohlformulierte Entschuldigung zurecht. »Dein Angebot ehrt mich sehr, aber ich könnte euch niemals zur Last fallen! Außerdem weiß ich nicht, bis wann ich es in die Stadt schaffen kann, und ich möchte euer Abendessen auf keinen Fall verzögern. Bitte entschuldige also, wenn ich ablehnen muss!«
    Offene Münder. Atemloses Staunen.
    Großer Bruder Dong findet als Erster die Sprache wieder. »Was?«, lacht er. »Ein Ausländer, der so gut Chinesisch spricht? Das ist ja unglaublich! Du musst einfach mit uns kommen und uns alles von dir erzählen!«
    »Wir nehmen ihn am besten gleich im Auto mit!«, schlägt der kantonesische Koch vor, und ein anderer macht zu meinem Entsetzen bereits Anstalten, meinen Rucksack abzutransportieren.
    »Nein, nein, nein, nein!« Meine Packung Doppelkekse raschelt durch die Luft, als ich versuche, die Gruppe durch wildes Händewedeln von ihrem Plan abzubringen. »Das geht nicht, das geht nicht! Ich muss weiterlaufen, ich kann nicht mit dem Auto fahren!«
    Alle gucken verdutzt, nur mein neuer Freund lächelt, denn seine Entscheidung ist bereits gefallen. »Keine Widerrede! Xinle ist meine Stadt, und du solltest mir zumindest gestatten, dich dort zum Essen einzuladen. Wenn du lieber zu Fuß gehen möchtest, bitte! Hier ist meine Nummer – ruf mich an, wenn du da bist!«
    Wenige Stunden später sitze ich mit einer Reisschale und Stäbchen vor einem großen Tisch mit einer drehbaren Glasplatte, auf der sich Flaschen und Teller türmen. Großer Bruder Dong hat zum Essen geladen, und alle sind sie gekommen: seine Schwester, seine Ehefrau und sein kolossaler Sohn, der mich aus winzigen Schweinsäuglein beäugt, dazu die Gefolgschaft mitsamt dem kantonesischen Koch und der jungen Frau, die Lehrerin Li heißt. Und schließlich ist da noch ein Polizeichef aus der Provinzhauptstadt. Er muss der wichtigste Gast des Abends sein, denn er sitzt dem Gastgeber genau gegenüber und wird ständig von allen zum Trinken genötigt. Auf mich macht er einen mürrischen Eindruck, wie jemand, der weiß, dass seine Wichtigkeit den Raum erfüllt.
    Glücklicherweise wagt es niemand, mir Alkohol aufzwingen zu wollen, denn Großer Bruder Dong füllt gleich zu Anfang ein großes Glas Limonade für mich und sagt: »Ich bin jemand, der versteht, dass du nicht trinken darfst! Du bist Sportler, genau wie ich, und der Alkohol würde deine Schritte nur langsam und unsicher machen!« Damit kippt er seinen Schnaps hinunter, atmet mit einem genießerischen Schmatzen aus und blickt stolz in die Runde. »Jawohl, Kampfsportler bin ich!«
    Der kantonesische Koch ruft: »Zeig’s uns, Großer Bruder Dong!«
    Das lässt sich dieser nicht zweimal sagen. Mit einer weit ausladenden Geste stellt er sein Glas auf dem Tisch ab und tänzelt einige Schritte in den Raum. Dann klatscht er, wirft seinen Oberkörper in einer flinken Bewegung nach vorn und steht kopfüber auf den Händen da. »Haha!«, kommt es triumphierend aus der Tiefe.
    Lehrerin Li beugt sich zu mir herüber. »Weißt du, Onkel Dong hat sich alles selbst erarbeitet. Seine Eltern waren so arm, dass er in seiner Jugend mit einem Zirkus durchs Land ziehen musste. Und schau, wo er jetzt ist!«
    »Oh!«, mache ich begeistert. »Ah!«
    Als Großer Bruder Dong schließlich mit leicht gerötetem Kopf wieder zwischen uns sitzt, habe ich eine Eingebung, stehe auf und hebe feierlich mein Glas Limonade über die Runde empor. Dann bringe ich einen übertrieben langen und umständlichen Toast auf Deutsch aus, den natürlich niemand versteht.
    Als ich fertig bin, blicke ich in verwirrte Gesichter.
    »Was war das, was du da gerade gesagt hast?«, fragt Lehrerin Li freundlich, und ich muss tatsächlich einen Moment überlegen, was ich eigentlich genau gesagt habe.
    »Nun, zunächst habe ich Großem Bruder Dong für seine Gastfreundschaft gedankt, dann euch allen Glück, Erfolg und viel Geld gewünscht und schließlich die deutsch-chinesische Freundschaft bekräftigt!«
    Alle lächeln zufrieden, sogar der Polizeichef.
    Dann wird weiter

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