The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Hügelkämme entlang. Einen Moment lang spiele ich mit dem Gedanken, einen der Abhänge zu erklimmen, um mir von dort einen Zugang zu suchen, doch dann fällt mir das wesentliche Merkmal der Großen Mauer wieder ein: Sie ist eine Mauer – ihr Zweck ist es, unzugänglich zu sein.
Gerade will ich entnervt weitergehen, als ein Mann neben mir auftaucht. Er muss der Erde entstiegen oder vom Himmel gefallen sein, denn ich habe ihn überhaupt nicht kommen sehen. Er ist mittleren Alters, hat einen Oberlippenbart und leicht zerzaustes Haar, und sein Lächeln sieht ausnehmend freundlich aus.
»Du willst auf die Mauer, oder?«, fragt er ohne Umschweife.
Ich nicke verdutzt.
»Dann komm mit!«
Und schon gehe ich hinter ihm her: In schnellem Schritt eilen wir die Straße entlang und unter einer Unterführung hindurch, kommen zu einer Autobahn, gucken nach links und rechts, rennen auf die andere Seite, klettern über eine Absperrung und einen steilen Hügel hinauf, und dann müssen wir uns nur noch durch ein Tor zwängen und sind da – auf der Großen Mauer!
Ich ringe nach Luft.
»Ich muss weg«, sagt der Mann, »aber du weißt jetzt ja, wie du wieder nach unten kommst!«
Spricht’s und winkt, und bevor ich es noch recht begriffen habe, ist er bereits verschwunden.
Ein leichter Wind säuselt um die Hügel, sonst ist nichts zu hören. Vor mir erstreckt sich die Große Mauer in ihren kraftvollen Windungen bis zum Horizont. Sie ist von einem Schleier aus Schnee bedeckt. Ich blicke ins Tal, wo sich die Straße wie ein Wurm um die Füße der Berge wickelt, und mir fällt auf, dass ich heute eigentlich auch auf ihrem Mittelstreifen hätte spazieren können. Es sind ja doch keine Fahrzeuge unterwegs. Nur auf der Autobahn wälzen sich langsame Kolonnen hintereinander her, und ich bin froh, dass ich zu Fuß hier bin.
Der Schnee ist perfekt, so weit das Auge reicht. Behutsam setze ich einen Fuß auf die weiße Fläche: Während er langsam einsinkt, wölbt sich der Schnee an den Rändern des Schuhs sanft nach oben. Ich verharre einen Moment so, dann ziehe ich ihn vorsichtig wieder zurück und freue mich über den Abdruck, dessen Rillen und Vertiefungen deutlich zu erkennen sind.
Von Beijing bis hierher , denke ich, und ein heißes Glücksgefühl breitet sich in mir aus. Ich kann nicht anders: Mein Freudenschrei schallt über die Berge und über das Tal, er echot einmal die ganze Länge der Mauer entlang bis zu ihren beiden Endpunkten am Gelben Meer und in der Wüste Gobi, dann kommt er zu mir zurück. Jubelnd springe ich in kurzen Hüpfern auf dem weichen Schnee herum, schwinge meinen Trekkingstock und balle drohend die Fäuste in Richtung der Barbarenhorden, die meine Mauer erstürmen wollen.
Denn diese Mauer gehört mir. Und natürlich den Kaisern der Ming. Im vierzehnten Jahrhundert hatte der Dynastiegründer Zhu Yuanzhang den letzten mongolischen Yuan-Kaiser gestürzt und beschlossen, die seit Jahrhunderten bestehenden Verteidigungswälle auszubauen. Er verfügte, dass Steine und Ziegel benutzt werden sollten statt gepresster Erde, und nicht mehr nur am Hang oder im Tal sollte die Mauer stehen – nein, auf den höchsten Kämmen der Hügel und Berge wollte er sie haben!
Hunderttausende waren daraufhin damit beschäftigt, Wälle und Türme zu bauen und das Reich an seinen Grenzen abzuschotten. Jahrhundertelang. Es war eines der größten Bauprojekte der Menschheitsgeschichte, doch am anderen Ende der Welt geschahen Dinge, von denen niemand hier auch nur etwas ahnen konnte: Im März des Jahres 1493, während der Regentschaft des jungen Kaisers Hongzhi, der ein besonders eifriger Mauerbauer war, lief an den Ufern Portugals eine kleine Karavelle ein. Sie sah arg mitgenommen aus, und ihr entstieg ein Mann, der verkündete, jenseits der Stürme gebe es einen Weg nach Asien, und er habe ihn gefunden. Der Mann hieß Christoph Kolumbus, und auch wenn er statt Asien das heutige Kuba entdeckt hatte, das Zeitalter der Kolonialisierung war angebrochen. Die Ming-Kaiser bauten weiter an ihrer Mauer, doch schon zwanzig Jahre später landeten die ersten portugiesischen Schiffe an der südchinesischen Küste.
Der Rest des Weges bis nach Baijing, dem Ort mit dem verheißungsvollen Namen »Zypressenbrunnen«, ist kalt und matschig. Es sind zwar nur wenige Fahrzeuge unterwegs, doch ihre Zahl reicht aus, um den Schnee zu einer braunschwarzen Pampe zu zermanschen, die an den Schuhen klebt und beim Laufen ein schmatzendes Geräusch von sich
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