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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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schüchtern in zarten Flöckchen vom Himmel fällt.
    Kurz bevor es dunkel wird, komme ich an die Grenze zur Provinz Shanxi. Eigentlich hätte ich gedacht, dass hier ein Schild stehen müsste, aber da ist nichts. Ich habe mir den Ort vorher in meinem GPS markiert, daher weiß ich, wo es ist, und tatsächlich bekomme ich auch genau dort eine automatische Nachricht vonmeinem Netzbetreiber: CHINA MOBILE HEISST SIE IN DER PROVINZ SHANXI WILLKOMMEN! Aber ein Schild suche ich vergeblich. Da sind nur ein paar alte Männer in Militärparkas, die vor einem grauen Gebäude Kohle schaufeln.
    In dem winzigen Ort Jiuguan, dem »Alten Pass«, gibt es entgegen meinen Erwartungen kein einziges Gasthaus. Dafür sehe ich einer Gruppe von Leuten zu, die sich mit einem Lkw-Fahrer darüber streiten, wer den Schaden an ihrem Haus bezahlen soll. Minuten zuvor ist an seinem Lastwagen ein Reifen explodiert, und der Knall war so laut, dass ich trotz meiner Müdigkeit und meiner wunden Füße vor Schreck in die Luft sprang. Außerdem ließ er mehrere Fenster in dem Haus zerbersten.
    Anstatt zu gucken, wie der Streit ausgeht, beschließe ich, in das einzige Restaurant am Ort zu gehen und eine Portion Ei mit Tomaten zu bestellen. Der Besitzer, der gleichzeitig auch der Koch ist, ist ein sehr freundlicher, dicker Mann mit einem Schnauzbart von geradezu preußischen Ausmaßen. Er setzt sich zu mir, nachdem er mir mein Essen gebracht hat, und wir unterhalten uns ein bisschen über dies und das. Als ich ihn frage, ob er ein Hotel in der Nähe kennt, überlegt er kurz, steckt sich eine Zigarette an und verschwindet draußen in der Dunkelheit. Zehn Minuten später bin ich in einem kleinen Zimmer bei einem freundlichen älteren Ehepaar untergebracht, halte meine Füße in eine Schüssel warmen Wassers und freue mich, dass ich jetzt nicht draußen in den Bergen schlafen muss, wo der Schnee sich wie ein kaltes, weißes Tuch auf die Hügel und die Täler niederlegt.



WINTER

FALSCHE MAUERN
    10. Dezember 2007: Jiuguan, Taihang-Gebirge
    Als ich am nächsten Tag aus dem Fenster blicke, ist draußen alles weiß – kaum zu glauben, aber der Schnee ist tatsächlich liegen geblieben!
    Eilig schnalle ich meine Taschen um und sage meinen Gastgebern Lebewohl. Die alte Dame gibt mir noch zwei Äpfel und einen guten Rat mit auf den Weg. »Lauf langsam und vor allem vorsichtig, mein Junge!«
    Ihr Mann bringt mich vor die Tür.
    »Wo willst du heute noch hin?«, fragt er und blickt mich prüfend an, während er sich eine Zigarette anzündet.
    »Bis nach Baijing müsste ich es eigentlich schaffen.«
    Er nimmt einen tiefen Zug und bläst ihn in die kalte Morgenluft. Mir fällt auf, wie still es ist, weil die Motorengeräusche auf der Straße fehlen.
    Er zeigt auf meine Kameratasche: »Wenn du Fotos machen willst, dann sieh auf jeden Fall zu, dass du dir auf dem Weg die Große Mauer von Guguan anguckst!«
    Die Große Mauer??
    Ich muss wirklich dumm aus der Wäsche geschaut haben, denn er bekommt einen Lachanfall, der in einem trockenen Husten endet. Als er sich wieder beruhigt hat, wischt er sich eine Träne aus dem Augenwinkel und blickt mich amüsiert an. Der ahnungslose Ausländer – das wird eine tolle Geschichte für die Freunde im Dorf werden! Die Furchen in seinem Gesicht haben sich in ein Netz aus Lachfältchen verwandelt.
    »Natürlich ist es die Große Mauer!«, sagt er in versöhnlichem Ton. »Oder hast du gedacht, die gibt es nur in Beijing?«
    Ein paar Stunden später stehe ich tatsächlich vor ihr: Busparkplatz, Tickethäuschen, Andenkenladen, ein paar Restaurants und ein Toilettengebäude – alles ist genauso wie bei Badaling, den»Acht Bedeutenden Bergkämmen« nahe Beijing. Nur eines ist anders: Während die Acht Kämme zu jeder Jahreszeit geradezu von Touristen, Souvenirhändlern und Reisegruppen überquellen, ist hier niemand, absolut niemand. Sogar der Schnee ist unberührt.
    Ich klopfe zuerst am Tickethäuschen, dann am Andenkenladen: keine Reaktion. Auch die Restaurants sind verschlossen. Vor dem Eingangstor, hinter dem eine steile Treppe zur Mauer hinaufführt, ist ein Metallgitter angebracht. Daneben ist auf einem Schild ein abgewandelter Spruch von Mao Zedong zu lesen. Er richtet sich an die Unentschlossenen: WARST DU NOCH NIE AUF DER GROSSEN MAUER, SO BIST DU KEIN GANZER KERL – UND HAST DU NICHT DIESEN ABSCHNITT BESTIEGEN, SO BEREUST DU ES UMSO MEHR.
    Enttäuscht blicke ich nach oben: Ruhig und ungestört windet sich das alte Bollwerk die

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