The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
gibt.
Als ich Baijing schließlich erreiche, sind weder Zypressen noch Brunnen zu sehen. Dafür gibt es ein paar Geschäfte, Restaurants und Werkstätten und ein Gasthaus, das mit seinem gigantischen Parkplatz auf Lastwagenfahrer zugeschnitten zu sein scheint.
Ich bekomme ein Zimmer. Es ist unbeheizt. Bibbernd verkrieche ich mich in meine beiden Schlafsäcke. Die Mütze behalte ich auf, der Laptop strahlt auch ein bisschen Wärme ab. Ich tippe mit steifen Fingern meinen Blog, dann telefoniere ich mit Juli. Sie hat das Bild von der Mauer gesehen und freut sich diebisch.
»War es wirklich so schön dort oben?«, will sie wissen. Es isteine Falle, das spüre ich, aber was soll ich sagen? Ich antworte, dass es schön war, weil es immer schön ist, auf der Großen Mauer zu stehen.
Sie kichert. »Und dir ist nicht in den Sinn gekommen, dass das vielleicht gar nicht die echte Große Mauer sein könnte?«
»Du meinst …?«
»Das sieht man doch, dass das ein Neubau ist. Die Große Mauer WAR vielleicht einmal da, bevor man sie abgerissen und neu aufgebaut hat!«
Ich bin sprachlos, und ihr Ton wird versöhnlich: »Du dummes Ei! Die Mauer, über die du dich heute so gefreut hast, war wahrscheinlich nicht einmal so alt wie du! Außerdem ist an diesem Ort nicht die Mauer das Entscheidende, sondern das alte Passgebäude von Guguan. Aber das hast du nicht gesehen, oder?«
KLOSITZ AUS SAMT
Drei Tage später komme ich in der Stadt Yangquan an. Ich suche mir ein Zimmer mit Blick auf den Fluss, dann wasche ich mit etwas Shampoo im Waschbecken meine Kleidung und warte darauf, dass Herr Yang mich zurückruft. Auf dem Computer dudelt ein Album von Black Uhuru . Während des Waschens nasche ich immer wieder vergnügt von meinen Schätzen, die ich auf dem Tisch verteilt habe: ein Pfund Mandarinen, zwei Paletten Fruchtjoghurts und zwei Schokoriegel, dazu eine Tüte Kartoffelchips und eine große Flasche Cola – alles meins!
Draußen blitzt der Fluss graublau in der Wintersonne. Ich setze mich auf die Fensterbank und stelle erfreut fest, dass in dieser Gegend kaum Schnee liegt. Bin ich etwa tiefer ins Tal gekommen? Der Weg von Baijing hierher war zumeist entweder matschig oder rutschig und manchmal sogar beides.
Einmal begegnete ich mitten im Nirgendwo der Landstraße einer abgerissenen Gestalt, die geradewegs einer Kohlemine entstiegen zu sein schien: Alles an diesem Mann war schwarz, sogar sein Gesicht. Das einzige saubere Kleidungsstück war ein roter Schal, der um seinen Hals flatterte. In der einen Hand hielt er ein Mantou-Brötchen, von dem er im Gehen immer wieder abbiss und das sich seltsam leuchtend von ihm abhob. Am anderen Unterarm baumelte eine große, offene Reisetasche. Er schwankte beim Gehen und sah unglaublich angestrengt aus.
Als er näher kam, bemerkte ich seinen seltsamen Blick.
»Hallo!«, sagte ich. Er blieb vor mir stehen und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, während er weiter hektisch auf seinem Brötchen herumkaute. Sonst zeigte er keine Reaktion. Er lebte offensichtlich in seiner eigenen Welt.
»Hallo?«, sagte ich noch einmal, doch er stierte mich nur mit zunehmender Panik an. Ich machte einen demonstrativen Schritt zur Seite: Sollte er doch vorbeigehen! Verständnislos guckte er die Straße an, dann wieder mich, dann wieder die Straße, und schließlich setzte er sich schwankend in Bewegung und ging langsam in einem Bogen an mir vorbei. Ich hörte ihn leise vor sich hin murmeln, während die Tasche schwer an seinem Unterarm baumelte.
Das Telefon klingelt: Herr Yang möchte wissen, wo ich wohne, um mich sofort abholen zu können. Sofort? Irgendwie schaffe ich es, mir noch bis zum Abend ein bisschen Zeit für mich selbst auszubitten, denn schließlich seien meine Sachen noch in der Wäsche, und das stimmt ja irgendwie auch.
Eigentlich hatte ich schon von dem Augenblick an keine besondere Lust auf diese Verabredung, als Herr Yang mich auf der Straße abfing: Ich war gerade damit beschäftigt, mich im Schnee fortzubewegen, ohne hinzufallen, als ein silberner Wagen an mir vorbeiraste. Die Bremslichter leuchteten auf, er legte den Rückwärtsgang ein, und dann kam er mit einem sirrenden Geräusch wieder zu mir zurückgefahren.
Am Steuer saß ein Mann um die vierzig: hohe Stirn, Kurzhaarschnitt, kräftige Gesichtszüge. Mit seiner dünnen Brille erinnerte er mich an die Fotos der Intellektuellen aus der Zeit der Kulturrevolution, die damals zu Tausenden der dumpfen Gewalt des Pöbels zum
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